26.07.2023 Stefan Weißenborn

Eine Zugreise über Japans Hauptinsel Honshū

Hektisch, heiß und heilig: Die Golden Route ist die klassische Strecke, auf der Japan-Touristen die Highlights der Hauptinsel Honshū kennenlernen. Per Zug geht es ab Tokio von Metropole zu Metropole bis Osaka. Dabei kommen auch interessante Tier- und Naturerlebnisse nicht zu kurz.


Es ist was los in Amerikamura. „Ame-mura“ wie die Leute das Hipsterviertel Osakas auch abkürzen, ist bekannt für Street-Art und Secondhand-Läden. Klamotten und Schallplatten gibt es hier zu kaufen. Und hinter einer Schaufensterscheibe tritt gerade eine Boyband mit zackigen Frisuren auf. Schon bevor Gesang und Klänge über Lautsprecher nach außen schallen, warten Mädchen in Miniröcken, die Handys mit Händen fest verwachsen.

Das facettenreiche Osaka – auch Food-Hauptstadt des Kaiserreichs, dazu später mehr – ist die letzte Station dieser Zugreise, die in Tokio beginnt. Auf dem Plan steht die Golden Route, eine klassische Reiseroute, die Metropolen, Bergregionen und heiße Quellen, Tempel und Schreine auf der Hauptinsel Honshū verbindet. Ausgetretene Pfade? Pah, in Japan, wo kein Winkel unentdeckt geblieben und man niemals allein ist, kein Hinderungsgrund. Betriebsamkeit ist Kernelement von Reisen in dieses Land.

Vor allem in Tokio, dem größten Ballungsraum der Welt. Der Ausblick von der 2019 eröffneten Shibuya-Sky-Aussichtsplattform schweift über ein schier unendliches Häusermeer, das von rund 38 Millionen Bewohnern bevölkert wird. Der Pazifik ist noch zu erkennen, aber schon der Mount Fuji, Japans heiliger Berg, hüllt sich heute in Wolken, während 230 Meter weiter unten Menschenmassen über die berühmte Shibuya-Kreuzung mit ihren vielen Zebrastreifen hetzen.

Eine Menschentraube hat sich vor einem bronzenen Hund gebildet, die Figur zeigt Hachikō, der auch nach dem Tod seines Herrchens noch über zehn Jahre zum Bahnhof Shibuya gekommen sein soll, um ihn dort abzuholen. Eine Art moderner Schrein in der an bedeutenden Schreinen und Tempeln reichen Hauptstadt. Beispiel: Der für tokioter Verhältnisse nur einen Steinwurf (15 U-Bahn-Minuten plus Fußweg) entfernte Meiji-Schrein im Yoyogi-Park, einer grünen Lunge der Stadt.

Gewidmet ist die Shintō-Stätte dem Meiji-Tenno und seiner Gemahlin, die für die Öffnung Japans stehen. Unter dem Kaiserpaar wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Shōgunat und damit das Feudalsystem abgeschafft und der Weg zur modernen Nation geebnet: „Zuvor war Japan über Jahrhunderte von der Außenwelt abgekapselt und hatte die industrielle Revolution verpasst“, erklärt Reiseleiterin Masako Hashimoto. Gläubige schreiten zum Gebäude, halten inne, klatschen zweimal, beten und verbeugen sich.

Badekult im Onsen

Nächste Station Ito, wir sitzen im Odoriko Limited Express, einem Regionalzug nach Ito auf der Izu-Halbinsel, einem 130 Kilometer entfernten „Nah“-Erholungsgebiet Tokios. Bekannt ist die 69.000-Einwohner-Stadt am dunkelsandigen Pazifik für ihre Onsen. Der Begriff bedeutet „heißes Wasser“, doch wird er auch für die im vulkanisch geprägten Japan weit verbreiteten Thermalbäder selbst benutzt. 3.000 davon gibt es im ganzen Land, allein 60 registrierte Betriebe in Ito.

Wir checken im Club Ito Onsen Yunoniwa ein, einem Hotel, das die Kultur sozusagen aufs Zimmer bringt. Im verglasten Bad wartet ein Privat-Onsen. Rund um die Uhr ergießt sich mit 41 Grad Thermalwasser plätschernd in die übergroße Wanne. Jederzeit kann man den Jungbrunnen nutzen. Sozial interessanter der öffentliche Hotel-Onsen: Vom Kimono entledigt zählt die am Beckenrand exerzierte Ganzkörperwäsche zu den Gepflogenheiten, für die man sich, meist auf einem Plastikhöckerchen zur Wand gedreht kauernd, mit bereitstehenden Utensilien einseift. Das heilige Heißwasser darf niemals verunreinigt werden.

Am nächsten Tag begegnen uns Schweine. An Straßenecken stehen die Paarhufer in Bronze gegossen. Die Figuren gehen auf eine Legende zurück, nach der ein verletztes Wildschwein aus den Bergen die Straße heruntergetrottet kam, um sich im Schwefelwasser zu kurieren. Eine Bäckerei nutzt die Geschichte als Geschäftsidee: Im Schaufenster sind Kartons mit hübschen Wildschweinzeichnungen ausgestellt. „Wildschweinkuchen“, scherzt Masako und lacht. Im Hotel gibt es am Abend – nein, kein Wildschwein, das in der japanischen Küche so gut wie keine Rolle spielt – stellvertretend für das japanische Essen Köstlichkeiten in Mannigfaltigkeit: Sie tragen Namen wie Sakizuke, Zensai, Oshokuji oder Agemono-Tempura, das Highlight Daimono: eine Suppe mit Rindfleisch und Gemüse, die man am Platz über der Flamme selbst gart.

Mit offenem Feuer und Getöse hält sich der Fuji zum Glück seit 1707 zurück, als der Vulkan das letzte Mal ausbrach. Bei der Weiterreise sehen wir ihn am nächsten Tag durch das Zugfenster. Ab und an lichtet sich der Wolkenschal und gibt Teile seiner Zuckerglasur aus Schnee frei. Das Besteigen des heiligen Berges, das örtliche Veranstalter in Fujinomiya während der Saison anbieten, steht nicht auf dem Programm der Golden Route. Besser so, denn auch am Fuji ist Overtourism ein Thema. Aber im Mount Fuji World Heritage Center, einem trichterförmigen umgekehrten Abbild des Berges, ist immerhin ein virtuelles Erklimmen mit Wissensspritzen Programm: Von Videoleinwänden, Schautafeln, Kunstwerken und Soundeffekten umgeben schlendern wir auf einem spiralförmigen Gang nach oben und lernen viel darüber, wie der Berg Leben und Kultur beeinflusst hat.

„Der Prognose zufolge wird er innerhalb der nächsten 30 Jahre zu 70 Prozent ausbrechen“, berichtet Masako. Also leisten wir am nahen Schrein Fujisan Hongū Sengen Taisha unseren Beitrag, um das zu unterbinden. Gegen eine Spende von 200 Yen (1,50 Euro) dürfen wir das Heilwasser der Quelle Yushima-no-yu in eine PET-Flasche zapfen und hoffen so, den wütenden Berggott weiterhin zu besänftigen.

Aushängeschild des perfekt organisierten japanischen Bahnsystems sind die Shinkansen-Schnellzüge. Foto: Stefan Weißenborn

Erlebnis Zugfahren

Teil der Golden Route ist auch eine Fahrt in Japans berühmtem Schnellzug Shinkansen, der erstmals 1964 anlässlich der Olympischen Sommerspiele fuhr und heute bis zu 300 Stundenkilometer schnell durch die Landschaft donnert. Von Deutschland sind wir teils ungeschliffenes Zugpersonal gewöhnt, nicht so in Japan: Jedes Mal, wenn der Schaffner den Waggon auf dem Weg zum nächsten verlässt, dreht er sich um und verbeugt sich so tief, dass man sich wundert, wie die Schirmmütze auf dem Haupt bleibt.

Einfahrt in Kiotos Hauptbahnhof: Das Stahlskelett mit Glasfassaden in futuristischer Bauweise bildet einen Gegensatz zur alten Bausubstanz, deren Prachtbauten und Anlagen entstanden, als Kioto von 794 bis 1868 Sitz der kaiserlichen Familie war. Ab dem ausgehenden achten Jahrhundert war die Stadt für 800 Jahre die Hauptstadt Japans, im Zweiten Weltkrieg blieb sie vom Bombenhagel verschont. Heute befinden sich allein 14 UNES­CO-Weltkulturerbestätten im Stadtgebiet, darunter der mit Blattgold überzogene buddhistische Tempel Kinkaku-ji.

Besonders hübsch erhalten sind auch die traditionellen Teehäuser im Gion-Viertel, Ursprung der Geisha-Kultur in Japan. Gion ist das bekannteste der fünf Ausgehviertel der alten Kapitale. Holzhaus reiht sich an Holzhaus, davor hängen rote Papierlampions. Noch heute erfahren Geishas, die in Kioto Geiko heißen, in „Okiya“ genannten Wohngemeinschaften unter den Fittichen einer Hausmutter ihre Ausbildung in Gesang, gehobener Konversation und im Musizieren.

Wir fahren mit der U-Bahn zum Schloss Nijo-jo. Die dortige Fürstenresidenz ist die einzige aus der Edo-Zeit erhaltene Shōgunen-Residenz des Landes. In die große Halle des Holzbaus lässt sich ein Blick werfen, hier dankte 1867 der letzte Shōgun ab, damit ging die Edo-Zeit zu Ende, die Meiji-Restauration setzte ein. Wer auf dem bekannten Nachtigallenparkett läuft, erzeugt Geräusche wie Vogelgezwitscher, weil die Hölzer unter dem Gewicht aneinander reiben. Einst sollte dieser Vorläufer des modernen Bewegungssensors vor Eindringlingen warnen.

Heilige Hirsche

Im Reigen der alten Kapitalen darf Nara nicht fehlen, das ab 710 erste ständige kaiserliche Hauptstadt war. Stars sind heute die heiligen Sika-Hirsche im Nara-Park. 1.200 dieser als Götterboten verehrten Tiere, deren Vorfahren aus dem nahen Urwald stammen, trotten zahm umher und betteln nach Futter, das in Keksform an Ständen verkauft wird und sie standortfest und zur verlässlichen Attraktion macht. Doch kommen Touristen auch wegen des shintoistischen Kasuga-Schreins mit seinen tausenden Laternen und dem Tōdai-ji, einem der größten buddhistischen Tempel und „größtem Holzbauwerk der Welt“, betont Masako. Es beherbergt eine 15 Meter hohe Statue des Erwachten.

Krebse, Kraken und Muscheln in Maxi-Größe schließlich empfangen uns auf der mit großen Leuchtreklamen und bunten Werbetafeln übersäten Straße entlang des Dotonbori-Kanals. Gegen Abend sind wir nach einer weiteren Schienenetappe im Streetfood-Himmel Japans angekommen: Osaka. Über den Ständen zeigen die Riesenskulpturen an, was es darunter Leckeres zu kaufen gibt. Es dampft an Grills, es duftet. Die Leute stehen Schlange, etwa um in Holzformen gepresstes Sushi zu ergattern, eine Spezialität Osakas. Mit dem Bau des Kanals im Jahr 1612 als Handelsweg wurde einst die Keimzelle des Kommerzes in Japan geschaffen, erläutert Masako. Noch heute ist Osaka mit seinem großen Hafen ein wichtiges Industriezentrum.

Was die internationalen Verflechtungen so hervorbringen, zeigt sich noch einmal in Amerikamura in einem der Secondhand-Läden, „West Coast Anchor“, wo US-Markenjeans nach Modellen und Größen sortiert sind, so groß ist das Angebot. An einem Kleiderständer hängen Trainingsjacken mit Aufdrucken auch aus Deutschland: „Lausitzer Sportschule Cottbus“. Sie erinnern daran: Irgendwann geht es zurück nach Hause. Doch die Lust auf die Heimreise will sich nicht so recht einstellen.          

Der buddhistische Tōdai-ji-Tempel in Nara beeindruckt mit seiner Größe. Foto: Stefan Weißenborn
Auch Nara war einmal Kapitale Japans. Hier gehören die frei umherlaufenden heiligen Sika-Hirsche im Nara-Park zum Stadtbild. Foto: Stefan Weißenborn
In Osakas Ausgehviertel Dotonbori laden schrille Reklamen zum Besuch der Straßenimbisse ein. Foto: Stefan Weißenborn
In Osakas Ausgehviertel Dotonbori laden schrille Reklamen zum Besuch der Straßenimbisse ein. Foto: Stefan Weißenborn

ARCD-Reiseservice

  • Anreise:
    Nonstop-Flüge nach Tokio z. B. ab Frankfurt am Main mit All Nippon Airways (ab 1.400 €) und Lufthansa (ab 1.200 €),
    Stopover-Flug z. B. mit EVA Air ab München über Taipeh (ab 1.232 €).
    Preise jeweils für Hin- und Rückflug.
  • Unterkünfte:
    Hotel Monterey Ginza in Tokio, zentral im Bezirk Chiyoda gelegen, DZ für zwei Personen ab ca. 110 €, www.hotelmonterey.co.jp/en/ginza/;
    Club Ito Onsen Yunoniwa in Ito mit Privat-Onsen und ausgezeichnetem Restaurant, DZ für zwei Personen ab ca. 230 €, www.laforet.co.jp/en/ito/;
    Hotel New Hankyu in Kioto gegenüber dem Bahnhof, mit klassischem Frühstück auf Tabletts serviert (Reis, Noriblätter, Fisch, Tofu, Misosuppe und grüner Tee), DZ für zwei Personen ab ca. 95 €, www.hankyu-hotel.com/en/.
  • Zugfahren:
    Ausländer mit Temporary Visitors-Status können den im ganzen Land gültigen Japan Rail Pass nutzen. Er kostet für eine Woche rund 240 Euro, kann aber auch mit zwei oder drei Wochen Gültigkeit erworben werden. Für Oktober 2023 ist eine deutliche Preiserhöhung angekündigt. Der JR Pass darf im ca. 25.000 Kilometer umfassenden Schienennetz auch für Fahrten mit dem Shinkansen genutzt werden, nur die Superexpresszüge „Nozomi“ und „Mizuho“ sind ausgenommen (https://japanrailpass.net). Für öffentliche Verkehrsmittel wie U-Bahnen, Busse und Nahverkehrszüge empfiehlt sich die wiederaufladbare Suica Card (www.jreast.co.jp/multi/de/welcomesuica/welcomesuica.html).
  • Auskünfte:
    Japan National Tourism Organization (JNTO), www.japan.travel/de/de

Titelfoto: stock.adobe.com/© Blanscape


Das könnte Sie auch interessieren

Kategorien