Fahrradfahren als Studienfach: Damit alle profitieren
Der Fahrradverkehr kam im Autoland Deutschland lange zu kurz. Das soll sich ändern, an Hochschulen kann man Radverkehr seit einiger Zeit studieren. Gesucht werden die Verkehrsplaner von morgen.
Wenn sich Berlins Autofahrer frühmorgens im Schritttempo durch den Berufsverkehr quälen, radelt Prof. Dr. Christian Rudolph gut gelaunt an ihnen vorbei. „Sich vor der Arbeit ein wenig im Freien zu bewegen, tut einfach gut“, sagt er. Der Familienvater ist auch ein Pendler, bevorzugt für den täglichen Weg zur Arbeit aber das Fahrrad – zumindest für die ersten Kilometer zum nächsten S-Bahnhof, wo er dann in die Bahn nach Wildau in Brandenburg umsteigt.
Dort bietet die Technische Hochschule (TH) einen Studiengang zu einem Thema an, das über Jahrzehnte viel zu kurz kam in Politik und Wissenschaft: Radverkehr. Genauer gesagt heißt das Masterstudium, das die Technische Hochschule Wildau anbietet, „Radverkehr in intermodalen Verkehrsnetzen“. Der Studiengang ist in seiner Ausrichtung einzigartig in Deutschland. „Intermodal bedeutet, dass das Fahrradfahren verknüpft wird mit anderen Verkehrsmitteln im ÖPNV“, erklärt Rudolph als Leiter der zugehörigen Stiftungsprofessur.
Dazu gehören etwa Fahrradparkhäuser, damit Radler ihr Zweirad sicher am Bahnhof abstellen können. Auch die Bahnhöfe selbst müssten attraktiver gestaltet werden, damit sich die Menschen gerne dort aufhalten, sagt Christian Rudolph. Zudem braucht es intelligente Lösungen, wie Pendler bequemer die Kombination Fahrrad-ÖPNV nutzen können. Und nicht zuletzt ist eine Grundbedingung dafür, dass sich die Menschen gerne und häufiger auf ihr Fahrrad setzen, dass die Radwege im Land gut ausgebaut und sicher sind.
Mehr Bildung für die Verkehrswende
Daran hat es in Deutschland lange gemangelt. Dabei ist das Fahrrad älter als das Automobil. Seine Erfindung geht auf das Jahr 1817 zurück, als Baron Karl von Drais seine „Laufmaschine“ erfand. Die Menschen fahren also schon seit über 200 Jahren Fahrrad, und doch waren Politik und Industrie die Autofahrer immer wichtiger. Das weitaus meiste Steuergeld für die Infrastruktur fließt in Deutschland in den Bau und die Instandhaltung von Straßen und Autobahnen, nur einen Bruchteil bekommen die Fahrrad- und Fußwege.
Das soll sich nun ändern. Verkehrswende heißt das ambitionierte Ziel in den Ministerien und Amtsstuben. Inzwischen gibt es kaum eine Stadt oder Gemeinde, die sich nicht der Aufgabe verschrieben hat, Alternativen zum Auto zu fördern. Dazu zählt auch und insbesondere die Förderung und Stärkung des Radverkehrs, der keine Abgase produziert und keine Staus verursacht. Doch für den grundlegenden Strukturwandel braucht es entsprechende Experten und Verkehrsplaner – im ganzen Land. So sind es bundesweit sieben Hochschulen, an denen sich Forscher jetzt speziell mit dem Verkehrsmittel Fahrrad beschäftigen. „Radverkehr ist Unifach“ erklärt das Bundesverkehrsministerium (BMVI), das die Radverkehrs-Professuren mit 11,6 Millionen Euro fördert. Um „Radverkehr und Nahmobilität“ geht es etwa an der Universität Kassel. Die Universität Wuppertal will „Science of Cycling“ voranbringen: „Der städtische Verkehr befindet sich im Umbruch“, heißt es dort. Bürger, Stadtplaner, Politiker und Verkehrsingenieure würden das Potenzial des Fahrrads und anderer aktiver und kleinster Verkehrsmittel erkennen, um Probleme wie Staus, Luftverschmutzung, Lärm und Bewegungsmangel zu lösen. „Aber verfügen wir auch über die notwendigen wissenschaftlichen Erkenntnisse, um die bestmögliche Umgebung für die Nutzer dieser Verkehrsmittel zu schaffen und menschenfreundliche Städte zu gestalten?“, fragt die Wuppertaler Uni.
Derzeit lautet die Antwort vielerorts noch „Nein“, selbst in vermeintlich progressiven Städten wie Berlin. 2018 ging die Hauptstadt mit dem bundesweit ersten Mobilitätsgesetz für weniger Auto- und mehr Rad- und Nahverkehr voran, das einen Paradigmenwechsel in der Verkehrspolitik einleiten sollte. Bundesweit folgten über 50 kommunale Radentscheide in anderen Städten.
Das Mobilitätsgesetz verpflichtet die Politik dazu, mehr für den Radverkehr zu tun.“
– Prof. Dr.-Ing. Christian Rudolph, Leiter der BMVI-Stiftungsprofessur Radverkehr in intermodalen Verkehrsnetzen, TH Wildau
Großer Nachholbedarf bei Realisierung
„Das Mobilitätsgesetz verpflichtet die Politik dazu, mehr für den Radverkehr zu tun“, sagt Stiftungsprofessor Christian Rudolph von der TH Wildau. Doch die Umsetzung kommt nur schleppend voran. In Berlin seien bislang nur zehn Prozent der festgelegten Maßnahmen umgesetzt worden. Es gebe nach wie vor zu wenige Radwege, auch zum Schutz der schwächeren Verkehrsteilnehmer werde zu wenig getan, kritisiert Rudolph. „Besonders heikel sind große Kreuzungen, das Passieren und Überqueren ist hier oft gefährlich – insbesondere wenn man mit Kindern unterwegs ist, beziehungsweise für Kinder, denen oft noch der Überblick fehlt.“
Dabei wollen die Menschen offensichtlich mehr Fahrrad fahren. So stieg der Fahrradbestand in Deutschland seit 2019 um über acht Millionen Stück auf 84 Millionen. Treiber dieses Trends sind E-Bikes. Ihre Zahl verdoppelte sich im gleichen Zeitraum auf elf Millionen. 2023 überholten elektrifizierte Zweiräder bei den Verkaufszahlen erstmals normale Fahrräder.
E-Bikes – beziehungsweise genauer: Pedelecs – haben für Pendler ein besonderes Potenzial, weil sie mit elektrischer Fahrhilfe bis zu 25 km/h fahren – ohne dass allzu große körperliche Anstrengung nötig wäre. Längere Strecken auf dem Rad sind so problemlos möglich. Immer mehr Städte setzen daher auf Radschnellwege, um gerade im urbanen Bereich ein zügiges Radeln zu ermöglichen. Ein Großprojekt ist etwa der Radschnellweg Ruhr, der über 115 Kilometer Deutschlands größten Ballungsraum durchziehen soll. Auch Baden-Württemberg geht ambitioniert voran, hier sollen bis 2025 zehn Radschnellwege realisiert werden.
Verkehrsplaner sehen in ihnen enormes Potenzial. 25 km/h Höchstgeschwindigkeit mögen für Autofahrer zunächst lahm klingen. Doch auf einem Radschnellweg gibt es idealerweise keine Kreuzungen, keine roten Ampeln und folglich keinen Stau. Unter dem Strich sollen Radfahrende so mindestens genauso schnell an ihr Ziel kommen wie mit dem Auto. Aber auch die normalen Radwege müssen inner- und außerorts so gestaltet werden, dass sie zu einer attraktiven und sicheren Alternative zum motorisierten Individualverkehr werden.
Die Transformation hin zur nachhaltigen Mobilität braucht Expertinnen und Experten.“
– Ragnhild Sørensen, Pressesprecherin, Changing Cities
Radwegebau ist kein Hexenwerk“, sagt Ragnhild Sørensen von Changing Cities. Die Nichtregierungsorganisation ging aus der Berliner Initiative Volksentscheid Fahrrad hervor, die sich wiederum für das erste deutsche Mobilitätsgesetz eingesetzt hat. Changing Cities sieht in den neuen Radverkehrs-Studiengängen eine wichtige Weichenstellung für die angestrebte Verkehrswende. „Die Transformation hin zur nachhaltigen Mobilität braucht Expertinnen und Experten“, so Ragnhild Sørensen. Die Verkehrswende finde nämlich nicht nur auf der Straße statt, sie entstehe zuallererst in den Köpfen. „Viele Menschen in den Städten sind jetzt schon so weit. Die Wissenschaft ist auch so weit. Was fehlt, ist der politische Wille.“
Auch der Autoverkehr zieht einen Nutzen
Die Bundesregierung gibt zwar so viel Geld wie noch nie aus, um den Radverkehr als klimaschonende Mobilitätsform zu fördern – 2024 belaufen sich die Ausgabemittel auf rund 360 Millionen Euro. Doch relativ gesehen seien es immer noch kleine Geldmengen, sagt Radverkehr-Professor Christian Rudolph von der Technischen Hochschule Wildau: „Es fließt nach wie vor deutlich mehr Geld in die Autoinfrastruktur.“
Autofahrer und Radfahrer – noch ist das keine innige Freundschaft, der Verkehrsalltag ist oft eher von Stress und Wut geprägt. Die Aggressionen im Straßenverkehr steigen, wie eine aktuelle Studie von Unfallforschern zeigt. Dabei nehmen Menschen hinter dem Pkw-Steuer Radfahrende häufig als Konkurrenten oder Gegner wahr – oder glauben, ihnen würde etwas weggenommen.
Das könnte ganz anders sein, wenn Rad- und Autoverkehr besser aufeinander abgestimmt würden, etwa mit getrennten Fahrspuren, wo sich niemand ins Gehege kommt. Städte wie Amsterdam, Groningen, Kopenhagen oder Brüssel machten vor, wie eine bessere Fahrradinfrastruktur das Vorankommen für alle Verkehrsteilnehmer verbessere, sagt Forscher Christian Rudolph: „Staus werden nicht von Fahrradfahrenden verursacht.“ Wenn die Zahl der Radfahrer auf möglichst separierten Radwegen steige, sei das also letztlich auch für Autofahrer eine sehr gute Nachricht: „Umso freier sind dann die Straßen.“
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