09.10.2023 Claudia Diemar

Die Côte Bleue westlich von Marseille

Im Schatten eines felsigen Gebirges verbirgt sich ein echter Geheimtipp. Der Küstenstreifen unweit der südfranzösischen Metropole ist fast nur bei Einheimischen bekannt und wird von einer Regionalbahn zuverlässig erschlossen. Individualisten und Wanderer sind hier genau richtig.


Ein Spätsommertag in Niolon. Der winzige Ort schmiegt sich in die Bucht, die im tiefsten Sonntagsfrieden liegt. Vom Restaurant wehen köstliche Düfte über das Wasser. Auf den Felsen rundum wird Mitgebrachtes gepicknickt. Von der Kaimauer springen Kinder ins transparente Türkis. Im warmen Wasser der Calanque wird geplanscht, geschnorchelt und geschwommen. Eine Dame schreit plötzlich auf. Ein Oktopus hat kurz ihren Fußknöchel umschlungen, macht sich aber, ebenfalls erschrocken, gleich wieder los. Als letzten Gruß schickt er eine Tintenwolke. Es bleibt an diesem Nachmittag bei diesem harmlosen Zwischenfall.

Calanques heißen die Meeresbuchten zu beiden Seiten von Marseille. Die nach Westen gewandte Küste nennt sich Côte Bleue und ist beliebt als Naherholungsgebiet der Marseillais. Vom Hauptbahnhof Saint-Charles verkehrt regelmäßig ein Regionalexpress entlang der „blauen Küste“. Die Linie gilt als eine der schönsten Zugstrecken Europas. Weil das Küstengebirge Chaîne de L’Estaque bis fast ans Wasser reicht, war deren Bau vor über 100 Jahren eine einzige Herausforderung. 23 Tunnel und 18 Viadukte auf einer Strecke von gut 30 Kilometern waren nötig, um die Schienenführung entlang der Klippen zu realisieren. „Die Arbeiter kamen aus Italien, Portugal, Spanien und Nordafrika“, so Lokführerausbilder Éric Barron. 1915 fuhr der erste Zug über die Gleise. Ein gutes Jahrhundert später wurde die Strecke für fast 50 Millionen Euro saniert und zukunftsfest gemacht. Heute wird die Bahn täglich von rund 2.000 Passagieren benutzt. Die Züge sind klimatisiert, leuchten in Blau und Silber oder in Knallbunt. An Sommerwochenenden sind sie gut gefüllt mit Ausflüglern aus Marseille. Werktags sind morgens und abends Pendler unterwegs. Ansonsten gibt es viel Platz für die Passagiere. Denn die Côte Bleue ist als touristisches Ziel so gut wie unbekannt.

 

Ein Regionalexpress verbindet regelmäßig die Orte entlang der geschichtsträchtigen Bahnstrecke der Côte Bleue. Foto: Serge Maccario
Im alten Hafen zu Füßen der Wallfahrtskirche Notre-Dame de la Garde zeigt sich Marseille von seiner idyllischen Seite. Foto: Claudia Diemar

Vom Main ans Meer

Dabei ist die Ligne de la Côte Bleue das perfekte Verkehrsmittel für Wanderer, die die Landschaft Schritt für Schritt erkunden wollen. Das umweltbewusste Reisen beginnt schon in Deutschland. Von Frankfurt am Main fährt täglich ein Doppelstock-TGV über Mannheim, Karlsruhe und Baden-Baden nach Marseille. Ohne Umsteigen lässt sich damit das Mittelmeer bequem und ohne Stress erreichen. Kurz vor 22 Uhr rollt der TGV im Endbahnhof Marseille Saint-Charles aus. Für die erste Nacht empfiehlt sich daher die Buchung eines Zimmers in einem nahe gelegenen Hotel. Die Nähe zu Marseille ist ein weiterer Pluspunkt der Côte Bleue. Wilde Natur und Großstadt-Flair liegen dicht beieinander und lassen sich nach Lust und Laune kombinieren.

L’Estaque, nordwestlich von Marseille, war ursprünglich ein Fischerdorf. Im 19. Jahrhundert siedelten sich wegen reicher Tonvorkommen viele Ziegeleien an. Fast alle Dachziegel Frankreichs wurden hier einst produziert. Exporte gingen in die ganze Welt. Zeitgleich machte L’Estaque Karriere als Künstlerdorf. Pierre-Auguste Renoir, Henri Matisse, Paul Cézanne, später André Derain, Raoul Dufy und Georges Braque – alle kamen und stellten ihre Staffeleien auf. Braque gilt mit seinem Werk „Häuser in L’Estaque“ als Erfinder des Kubismus.

 

Im Künstlerdorf L’Estaque sind viele Haustüren mit von Malern gestalteten Nummernschildern geschmückt. Foto: Claudia Diemar

Heute ist L’Estaque eingemeindet als 16. Arrondissement von Marseille und ein stiller Vorort der Metropole. Ein Spaziergang auf den Spuren der Künstler vor Ort führt als Parcours von einer wetterfesten Reproduktion zur nächsten. Impressionismus, Fauvismus und Kubismus sind vertreten.

Wandern mit Badestopps

Zwischen Niolon und Ensuès-la-Redonne zeigt sich die Côte Bleue von ihrer wildesten Seite. Bizarre Felsen reichen bis unmittelbar ans Meer. Chemins des Douaniers, Zöllnerwege, werden die hiesigen Wanderpfade genannt, weil auf ihnen einst Kontrollgänge gegen Schmuggler erfolgten. Die Küstenwege sind bestens markiert. Zusätzlich sind sogenannte Boucles Côte Bleue ausgewiesen und führen als Schleifen durch das Hinterland.

Unterwegs auf dem Küstenpfad finden sich schöne Badeplätze mit glasklarem Wasser, etwa in der Bucht von Grand Méjean, wo es im Restaurant „Le Mange Tout“ winzige frittierte Fische und die weltbesten Pommes frites gibt. Beim Schwimmen ergeben sich immer wieder Blicke auf die Zugstrecke mit den imposanten Viadukten. Bei jeder Abfahrt aus einem der Miniaturbahnhöfe ertönt ein melodisches Gebimmel, vor den Tunneln erklingt ein sonores Tuten. Patrick ist Zugbegleiter aus Leidenschaft: „Ich kann mir keine schönere Strecke in ganz Südfrankreich vorstellen.“

 

In Grand Méjean fällt der Blick auf eines der Viadukte, die typisch für die Bahnstrecke entlang der Côte Bleue sind. Foto: Claudia Diemar

Bei Carry-le-Rouet öffnet sich die Landschaft. Das Küstengebirge flacht etwas ab und rückt ein Stück vom Meeressaum ab. Carry-le-Rouet und der Nachbarort Sausset-les-Pins haben daher längere Sand- oder Kieselstrände. Der Regionalexpress fährt weiter nach La Couronne-Carro, von dem eine Wanderung über rund vier Stunden zurück nach Sausset-les-Pins führt. Auf dieser Strecke sind keine nennenswerten Steigungen zu bewältigen, aber der Untergrund besteht zumeist aus gefurchtem Fels, weshalb hier gute Wanderschuhe empfehlenswert sind. Zwischendurch gibt es immer wieder Gelegenheit für ausgiebige Badepausen, etwa an der Anse de Sainte-Croix. Der Weg führt vorbei an einigen ufernahen, angenehmen Campingplätzen mit Mobilheim-Vermietung. Nur hier ist Platz genug für solche touristischen Einrichtungen, die in den engen Calanques nirgends zu finden sind.

 

Beliebter Badestopp beim Wandern: der Strand von La Couronne-Carro. Foto: Claudia Diemar

Gute Infrastruktur

In Sausset-les-Pins liegt alles dicht beieinander. Bäcker, Cafés, Läden und die kleine Fischhalle sind wie der Bahnhof schnell erreicht. Wanderer können morgens den Zug zum Startpunkt der jeweiligen Tour nehmen, abends von einem anderen Bahnhof die Rückfahrt antreten oder bis Sausset-les-Pins durchlaufen. Der Wochenpass auf der Strecke bis Marseille kostet rund 20 Euro.

Die Côte Bleue endet weiter nordwestlich im Golfe de Fos mit der Raffinerie von Lavéra und dem großen Industriehafen von Marseille. Hier ist Schluss mit der Idylle. Doch gilt es zum Abschluss noch ein Juwel zu entdecken: Martigues nennt sich „Venedig der Provence“, weil seine malerische Altstadt von Kanälen durchzogen ist. Passend zu diesem Beinamen wird hier jedes Jahr im September über mehrere Tage ein venezianischer Karneval gefeiert, bei dem Hunderte von echten Venezianern in ihren aufwendigen Kostümen durch die Gassen promenieren und von begeisterten Besuchern bewundert werden. Ein Fest für das Auge!

 

Mit seiner von Kanälen durchzogenen Altstadt gilt Martigues als Venedig der Provence. Foto: Claudia Diemar
Martigues eifert der berühmten Schwesterstadt alljährlich im September mit einem venezianischen Karneval nach. Foto: Claudia Diemar

ARCD-Reiseservice

Titelfoto: Provence Tourisme/V. Baume + B. Soulage


Das könnte Sie auch interessieren

Kategorien