15.04.2023 Simone Eber

Zu Gast in der nordfranzösischen Somme-Bucht

Auf ihrem Weg nach Westen zieht es deutsche Frankreich-Urlauber meist in die Bretagne oder Normandie, seltener in den Norden des Landes. Das ist schade. Denn hier wartet mit der Somme-Bucht eine Region voll überraschender Naturschätze, wie unsere Tour von Amiens entlang der Somme bis zur Küste beweist.


Foto: Nicolas Bryant

Die „Hauts-de-France“ (Höhen Frankreichs), wie die Region seit der Gebietsreform von 2016 offiziell heißt, umfasst die ehemals eigenständigen Départements Nord-Pas-de-Calais und Picardie, wobei Letzteres seinen Verwaltungssitz in Amiens hat.

Genau diese Stadt ist oft der Grund, wenn kulturinteressierte deutsche Urlauber doch einmal einen Abstecher in den Norden machen. Denn Amiens ist Standort des größten gotischen Bauwerks Frankreichs, der rund 800 Jahre alten Kathedrale Notre Dame. Mit ihrer himmelstrebenden Architektur, ihren ebenso vielfältigen wie kunstvollen Steinmetzarbeiten an Fassaden und Portalen und ihren leuchtenden Glasfenstern gehört sie zu Recht zum UNESCO-Weltkulturerbe.

 

Die gotische Kathedrale von Amiens mit ihren reichen Ornamenten ist eine der bedeutendsten Kirchen Frankreichs. Foto: Werner Klein; stock.adobe.com/©JC DRAPIER

Dorf in der Stadt

Doch gleich hinter der Kathedrale beginnt ein Teil von Amiens, den nur wenige kennen: Das ehemalige Handwerkerviertel St. Leu wird von Kanälen des Flusses Somme durchzogen. Brücken, Fachwerk und das Marionettentheater sorgen für eine heimelige Atmosphäre in dem heutigen Uni-Quartier. Jeden Samstag findet hier am Parmentier-Platz ein Markt statt, auf dem die Produkte aus den schwimmenden Gärten von Amiens verkauft werden. Das Reich der Gemüsebauern, die heute noch einmal im Jahr, immer am dritten Sonntag im Juni, nach alter Tradition vom Wasser aus ihre Waren anbieten, liegt gleich hinter St. Leu.

 

Eine Somme-Brücke verbindet St. Leu mit der Innenstadt von Amiens. Foto: Simone Eber
Dörfliches Flair in Amiens: Im Stadtteil St. Leu lässt es sich gut bummeln und einkehren. Foto: Simone Eber

Schwimmende Gärten? Wie genau haben wir uns das vorzustellen? Da hilft ein Blick in die Geschichte: Schon ab dem elften Jahrhundert wurden die Sümpfe in einem ehemaligen Flussbett der Somme trockengelegt, um sie für den Gemüseanbau zu nutzen. Von den Armen der Somme und der Avre eingeschlossen entstand so nach und nach ein rund 300 Hektar großes Mosaik von Parzellen, die durch ein insgesamt 65 Kilometer langes Netz von Wasserkanälen getrennt sind: die „Hortillonages“ von Amiens.

„Anfang des 20. Jahrhunderts gab es hier noch etwa 250 Gemüsebauern“, erzählt Francis Parmentier, den wir bei strömendem Regen auf einer der Inseln treffen. Der Mittfünfziger ist in den Wassergärten aufgewachsen: „Mein Babykorb stand mitten im Radieschenfeld“, scherzt er. Zu dieser Zeit hatte jedoch bereits ein Niedergang des Anbaus eingesetzt. Trotzdem entschloss sich Francis Ende der 1980er-Jahre, selbst als „Hortillon“ einzusteigen und er gehört heute zu den letzten neun Hauptberuflichen seiner Zunft.

„Ohne den Impuls durch die Kunst wäre es nicht weitergegangen“, meint Francis, und spielt damit auf das Gartenfestival an, das 2023 zum vierzehnten Mal in den Hortillonages stattfindet. Denn die Wassergärten haben sich über die Jahrzehnte verstärkt hin zur Freizeitnutzung entwickelt: Neben etwa 28 Hektar, die noch dem Gemüseanbau vorbehalten sind, gibt es mittlerweile hunderte von kleinen Privatgärten – und eben das Gartenfestival, das jeweils von Mai bis Oktober 50 Kunstexponate auf die Inseln und auch in die Kanäle bringt.

Francis freut sich über die Wiederbelebung, die auch seinem Geschäft nutzt. Rund 40 Gemüsesorten baut er an, darunter verschiedene Kohl-, Karotten und Rote-Beete-Arten. Besonders liegt ihm daran, „vergessene, alte Sorten wieder aufleben zu lassen“. Abnehmer seiner Produkte sind die Zentralküche für die Schulen in Amiens und im Umland, zehn Restaurants und eine Supermarktkette, außerdem verkauft er auf Märkten – natürlich auch am Parmentier-Platz.

 

Francis Parmentier arbeitet als Gemüsebauer in den Wassergärten von Amiens. Foto: Simone Eber

Als Francis mit seinem Holzkahn wieder in das Labyrinth aus Kanälen hinausfährt, sieht das trotz des unwirtlichen Wetters sehr malerisch aus. Doch nicht umsonst hat er beim Abschied darauf hingewiesen, dass er fast alles in Handarbeit macht. Nur ein Mini-Traktor kann auf die Parzellen transportiert und dort eingesetzt werden. Auch wir besteigen jetzt ein Elektroboot und lassen uns durch die verträumte Wasserlandschaft schippern, wo wir einige der Kunstexponate entdecken. Auch Ruderboote und Barken stehen für geführte oder individuelle Touren zur Verfügung; außerdem führt ein Treidelpfad an den Hortillonages entlang.

Sinnlicher Garten

Wir verlassen Amiens und fahren immer der Somme entlang in Richtung Küste. Bei Abbeville machen wir einen Abstecher in Richtung Norden zur Zisterzienserabtei Valloires aus dem zwölften Jahrhundert. Hier sind wir mit Jean-Claude d’Arras verabredet, der uns die zeitgenössischen, von Gilles Clément angelegten Landschaftsgärten des Klosters zeigen will. Zu dem Gärtner gesellt sich Olivier Gignon, der junge Chef des Park-Restaurants „La Table du Jardinier“.

Die Gärten von Valloires gliedern sich auf etwa acht Hektar in drei Bereiche: einen streng strukturierten französischen Garten, einen (scheinbar) natürlichen englischen Garten und einen „Garten der Sümpfe“, der von größeren und kleineren Kanälen durchzogen wird. Faszinierend ist die Vielfalt, in der Natur hier erlebbar wird: Im Garten der Inseln etwa finden sich Pflanzen gruppiert nach Farben oder nach Jahreszeiten; es gibt eine Insel der Rinden und eine, die verschiedene Kirschsorten präsentiert. „Gartenerlebnis ist nicht nur Sehen“, betont Jean-Claude d’Arras, „sondern alle Sinne sollen angesprochen werden.“ Deshalb finden sich im Garten der fünf Sinne etwa Pflanzen, deren Blätter im Wind rauschen, oder die pieken.

 

Das Gartenfestival bringt von Mai bis Oktober Kunstobjekte auf die Inseln der Hortillonages. Foto: Sandrine Allard-Saint-Albin
Olivier Gignon, Chef des Restaurants der Klostergärten von Valloires, hat ein Faible für essbare Blumen. Foto: Simone Eber

Besonders interessiert uns beim weiteren Rundgang der Geschmackssinn. Denn der Gärtner und der Koch wollen uns von den vielfältigen natürlichen Aromen der Gewächse überzeugen und die Pflanzen mit uns in der Küche zu kleinen Gerichten verarbeiten.

So kosten wir essbare Begonien, die nach Zitrone schmecken, und streuen sie später zusammen mit Katzenminze auf ein Tomaten-Weißbrot. Das Zuckerersatz-Kraut Stevia finden wir pur genossen ziemlich penetrant, doch auf Ziegenkäse mildert es angenehm die bittere Note des chèvre. Die Beeren des Pfefferbaums von Sichuan schmecken pfeffrig-zitronig und betäuben kurzfristig die Lippen. Sie verwendet Olivier Gignon in der Küche für ein würziges selbstgebackenes Brot.

Jetzt aber ab zur Küste! Die Somme mündet 70 Kilometer nordwestlich von Amiens in den Ärmelkanal, ihre Bucht erstreckt sich auf 70 Quadratkilometern zwischen der Pointe du Hourdel und der Pointe de Saint-Quentin-en-Tourmont. An der ovalen Einbuchtung im Süden liegen die Ferienorte Le Crotoy und Saint-Valery-sur-Somme, im Norden das Vogelreservat Parc de Marquenterre und zwischen Quend und Fort Mahon der schönste Abschnitt des insgesamt 15 Kilometer langen Strandes.

 

Zwischen Quend und Fort Mahon ist der insgesamt 15 Kilometer lange Strand der Somme-Bucht besonders einladend. Foto: Simone Eber
An der Somme-Bucht sind oft Fischer zu beobachten, die mit großen Netzen Krevetten fangen. Foto: Simone Eber

Gut genährte Muscheln

Genau hier treffen wir Odile von Norwoe, um mit ihr bei Ebbe zur Muschelzuchtstation von Quend zu spazieren. „Die Miesmuscheln sind ein Wahrzeichen der Somme-Bucht“, erklärt unser Guide, während wir mit knarzenden Gummistiefeln über den Sand laufen und das ganz spezielle nordfranzösische Küstenpanorama in uns aufnehmen – eben nicht „nur“ Strand, sondern eine weite Landschaft aus Wasserflächen, Sümpfen, Dünen und Salzwiesen. Wir beobachten Pferde im Wasser, erspähen einen Seehund in der Ferne und schauen zwei Männern zu, die in knalliger Fischerkluft das Meer nach Krevetten durchkämmen.

 

Guide Odile von Norwoe erklärt, wie die beliebten Miesmuscheln am Strand von Quend gezüchtet werden. Foto: Simone Eber

Dann tauchen die Muschelbänke und -pfähle auf. Wie scharfe, schwarze Linien durchschneiden Tausende von ihnen über fünf Kilometer den Strand. Odile erklärt uns, wie die Aufzucht abläuft: Die Muschelbänke, die an eine niedrige Balancierstange erinnern, dienen als „Gebärstation“: Hier, genauer gesagt an zwischen den Balken gespannten Kokosseilen, docken die Larven nach der Befruchtung im Wasser an. Nach etwa einem halben Jahr werden die Seile von dort abgenommen, um einen Pfahl gespannt und mit einem Netz bedeckt. Dort wachsen die Muscheln ein weiteres Jahr und ernähren sich dabei vom Plankton aus der Flut, bevor die äußerste Schicht, die am meisten Nahrung abbekommen hat, geerntet werden kann. Da der Produktionsprozess immer im März startet, sind also im Sommer des darauffolgenden Jahres die ersten Miesmuscheln reif. „Die beste Zeit zum Muschelessen ist die heiße Zeit von Juli bis September, denn dann sind die Muscheln gut genährt“, legt uns Odile ans Herz.

Weil 90 Prozent der Ernte aus Quend in die Region verkauft wird, ist es überhaupt kein Problem, die Muscheln vor Ort zu probieren. Das tun wir prompt im nahe gelegenen Restaurant La Terrasse. Mit Blick auf die Bucht genießen wir die frischen Meeresfrüchte in einer leichten Weißweinsoße. Unser Fazit: Nordfrankreich ist definitiv eine Reise wert und überzeugt mit einem besonderen Charme, den es zu entdecken lohnt.

 

ARCD-Reiseservice

Anreise:

  • Schnelle TGV-Verbindung von Frankfurt (Fahrtzeit ca. 3 Std. 40 Min.) oder Stuttgart (Fahrtzeit ca. 3 Std. 30 Min.) nach Paris-Est, dann von Paris-Nord nach Amiens (ca. 60 Min.). Von hier weiter per Mietwagen oder mit dem Fahrrad auf der Véloroute Vallée de la Somme.

Übernachtung:

Regionale Küche:

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Auskünfte:

Titelfoto: stock.adobe.com/©hanseat


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