02.07.2023 Bettina Glaser

Autobahnkirchen als Rastplatz für die Seele

Immerhin 44 Autobahnkirchen sind es, die an den Bundesautobahnen stehen. Was sich dahinter verbirgt? Wir haben die Ausfahrt zur Autobahnkapelle Christophorus neben der Kochertalbrücke an der A6 genommen und uns einmal umgesehen.


Viel los ist an diesem Tag auf der A6 zwischen Heilbronn und Nürnberg. Eine Baustelle bremst den Verkehr aus, auf der rechten Fahrspur reiht sich ein Lkw an den nächsten. Es ist anstrengend, sich mit dem Auto zwischen zwei großen Brummis durch die Baustelle zu schlängeln. Immer wieder Stop-and-go. Als die Fahrzeuge endlich wieder rollen und ein paar Kilometer geschafft sind, kommt der Parkplatz an der Kochertalbrücke gerade recht. Eine Pause fühlt sich jetzt richtig an. Direkt neben den Pkw-Parkplätzen auf dem Rastplatz steht eine weiße Kapelle auf einem kleinen, grünen Hügel. Lila, pink, gelb, rot, grün, orange – das Glas der Eingangstür leuchtet in bunten Farben, der Bibelspruch von Jesus „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid“ lädt zum Eintreten ein. Im Hintergrund rauscht der Verkehr über die Kochertalbrücke, die mit 185 Metern höchste Talbrücke Deutschlands

 

Durch bunte Fenster einfallende Sonnenstrahlen projizieren ein Muster an die Wände. Foto: Bettina Glaser

Drinnen wartet Stille auf die Besucher. Und ein Farbenspektakel. Sonnenstrahlen fallen durch die kräftig leuchtenden Glasfenster und projizieren ein farbiges Muster an die Wände. „Als wir die Kapelle geplant haben, war uns das gar nicht bewusst“, erzählt Schwester Inge Majer rückblickend über den Effekt der Fenster, die die Künstlerin Stefanie Bahlinger mit Fisch- und Regenbogensymbolen gestaltet hat. Schwester Inge ist seit 1988 eine der Christusträger-Schwestern in Braunsbach und war bei der Planung der Autobahnkirche in Fischform und der Eröffnung 2014 dabei. Die ordensähnliche Gemeinschaft ist Träger der Autobahnkapelle an der Kochertalbrücke. Jeden Tag kommt eine der acht Schwestern hierher, wechselt Kerzen aus und füllt Prospekte auf. Immer wieder ergeben sich auch tiefgründige Gespräche mit den Besuchern. „Schwester Astrid erlebt es oft, dass sie das Gefühl hat, sie muss jetzt zur Autobahnkapelle rübergehen“, erzählt Schwester Inge. In diesen Momenten treffe sie dort tatsächlich häufig jemanden in Not.

 

Schwester Inge Majer füllt in der Kapelle regelmäßig neue Kerzen auf und legt Prospekte nach. Foto: Bettina Glaser

Unterschiedliche Anliegen der Besucher

Die bunte Glastür öffnet sich. Ein Ehepaar läuft zielstrebig zum Aufsteller mit den Kerzen neben dem Altar. Eine Handvoll Lichter leuchtet bereits und verrät, dass an diesem Vormittag schon ein paar Besucher da waren. „Autobahnkapelle Christophorus an der Kochertalbrücke“ ist darauf zu lesen. Und: „Gottes Friede sei mit dir“. Das Ehepaar zündet zwei weitere Kerzen an. Ein freudiges Lächeln liegt auf den Gesichtern. Im Gespräch erfahren wir, dass die beiden schon öfter hier waren. „Anfangs sind wir zufällig hierhergekommen“, erzählt Annette Sohlleder aus Bubenorbis im Landkreis Schwäbisch Hall. An diesem Tag haben die beiden ein besonderes Anliegen. Sie sind auf dem Rückweg von einem Arztbesuch und möchten Gott danken. „Letztes Jahr waren wir auch hier. Da habe ich eine zwielichtige Diagnose vom Arzt bekommen“, sagt Annette Sohlleder. Sie hätten damals in der Autobahnkapelle ihre Sorgen vor Gott gebracht. Nun hätten sie gerade beim Arzt erfahren, dass alles gut ausgegangen sei. „Immer wenn wir hier vorbeikommen, halten wir“, erzählt Uwe Sohlleder. „Wir sind so begeistert. Es ist ein besonderer Ort.“ Jedes Mal schreibt Annette Sohlleder auch ein paar Worte in das Anliegenbuch – diesmal: „Danke, Herr für deine Wunder, die du immer täglich neu an uns vollbringst“.

 

Annette und Uwe Sohlleder aus Bubenorbis im Landkreis Schwäbisch Hall zünden aus Dankbarkeit eine Kerze in der ökumenischen Autobahnkapelle Christophorus an. Foto: Bettina Glaser

Die Anliegen der Besucher nehmen die Schwestern in ihr Gebet auf. Immer am zweiten Dienstag im Monat findet ein Abendgebet in der Autobahnkirche statt – hier geht es um die Anliegen, welche die Besucher ins große blaue Buch am Eingang geschrieben haben. Darin ist einerseits von Hilferufen, Krankheiten und Schicksalsschlägen zu lesen, andererseits aber auch von viel Dankbarkeit – geschrieben von einem Sohn auf dem Weg zur Beerdigung seines Vaters, von einer Gruppe Motorradfahrer oder von Besuchern der Retro-Classics-Messe. Mehrere Einträge sind auch in fremden Sprachen verfasst. Und selbst aus den umliegenden Gemeinden kommen laut Schwester Inge immer wieder Menschen in die Autobahnkirche, die hier die Anonymität schätzen.
Wieder öffnet sich die Tür. Ein Geschäftsmann eilt herein, faltet die Hände, murmelt vor sich hin und verlässt die Kirche genauso eilig wie er gekommen ist.

 

 

Anliegenbücher

Diese Gedanken und Gebete haben Besucher in die Anliegenbücher der Christophoruskapelle neben der Kochertalbrücke an der A6 geschrieben. Die Christusträger-Schwestern nehmen sie in ihr Gebet auf.
 

Wertschätzung für Lkw-Fahrer

Beim Anliegenbuch liegen Trucker-Bibeln in verschiedenen Sprachen aus. Diese würden von den Lkw-Fahrern gern mitgenommen, berichtet Martin Heubach. Der ehemalige Leiter eines Familienferiendorfs und Seelsorger bei der Stuttgarter Messe engagiert sich nun im Ruhestand bei der Autobahnkapelle. Immer am letzten Dienstag im Monat von April bis September organisiert er mit Schwester Inge und weiteren Mitarbeitern den Truckertreff, einen Austausch für Lkw-Fahrer bei Essen und Getränken (Termine auf der Website der Christusträger-Schwesternschaft). „Die Truckerfahrer waren mal die Könige der Nation, jetzt sind sie die Deppen der Landstraße“, beobachtet Heubach. Ein Banner mit der Aufschrift „Wir sagen Danke“ soll ihnen bei den Treffen Wertschätzung entgegenbringen. Lkw-Fahrer hätten viele Nöte und kaum soziale Kontakte. Um der „babylonischen Sprachverwirrung“, wie er die Sprachbarrieren zu ausländischen Lkw-Fahrern nennt, Herr zu werden, greife er mittlerweile auf ein Simultanübersetzungsgerät zurück. Viele der Fahrer seien dankbar. „Sie sagen: ‚Das haben wir noch nie erlebt, dass sich jemand für uns Zeit nimmt‘“, erzählt er.

 

Immer am letzten Dienstag im Monat von April bis September findet der Truckertreff auf dem Parkplatz Kochertalbrücke statt. Foto: Martin Heubach

Zurück an der Kapelle: Eine Frau kommt heraus. „Es war sehr schön. So eine Ruhe. Es leuchtet richtig“, schwärmt sie. Sie war zum ersten Mal in einer Autobahnkirche und fügt hinzu: „Es müsste mehr davon geben.“ Als sie hört, dass in Deutschland 43 weitere Autobahnkirchen stehen, ist sie überrascht und möchte auf der Weiterfahrt auf die Schilder achten. Auch wir fahren entspannt weiter, nachdem wir die Stille in der Kapelle unweit des rauschenden Verkehrs genossen haben. Und statt Benzin Ruhe und Kraft getankt haben.

 

Martin Heubach verteilt bei den Truckertreffs als Ehrenamtlicher Segensbändchen. Foto: Bettina Glaser
Viele Besucher der Autobahnkapellen zünden eine Kerze für Verwandte, Freunde oder Verstorbene an. Foto: Bettina Glaser

Interview über die Autobahnkirchen in Deutschland

Matthias Stracke-Bartholmai (Foto) ist Ansprechpartner für Autobahnkirchen bei der Akademie des Versicherers im Raum der Kirchen (VRK). Das Gespräch mit ihm führte Bettina Glaser, Redakteurin des ARCD-Clubmagazins Auto&Reise.
 

Auto&Reise: Wie sind Autobahnkirchen entstanden?

Matthias Stracke-Bartholmai: Die Autobahnkirchen haben ganz unterschiedliche Geschichten. Teils handelt es sich um sehr alte Kirchen, die durch ihre verkehrsgünstige Lage als Autobahnkirchen fungieren können oder mitgenutzt werden. Andere Autobahnkirchen sind extra als solche errichtet worden. Initiativen für Autobahnkirchen gingen aus von Pfarrpersonen, Gemeinden, Ehrenamtlichen, Fördervereinen, Autohöfen oder auch Privatpersonen. So wurde beispielsweise die erste Autobahnkirche in Adelsried 1958 von einem Unternehmer gestiftet, der ein Familienmitglied bei einem Verkehrsunfall verloren hatte.
Die unterschiedliche Geschichte spiegelt sich auch in den verschiedenen Trägern der Autobahnkirchen und ihrer konfessionellen Bandbreite; 19 Autobahnkirchen sind evangelisch, acht katholisch und 17 ökumenisch. Davon unabhängig stehen sie grundsätzlich allen Menschen offen. Wir, die Akademie des Versicherers im Raum der Kirchen (VRK), engagieren uns seit den 1980er-Jahren für die Vernetzung und Unterstützung der Autobahnkirchen. So organisiert sie einmal jährlich die Konferenz der Autobahnkirchen. Darüber hinaus stellt sie den Kirchen kostenlose Materialien zur Verfügung, fördert die Öffentlichkeitsarbeit der Autobahnkirchen und verantwortet die Website www.autobahnkirche.de.
 

Welche Kriterien gibt es, damit eine Kirche eine Autobahnkirche wird?

Autobahnkirchen stehen entweder an Autobahnraststätten, an Autohöfen oder in unmittelbarer Nähe einer Autobahnabfahrt, also nicht weiter als 1.000 Meter. Die Entfernung zwischen zwei Autobahnkirchen an derselben Autobahn sollte mindestens 80 Kilometer betragen. Parkplätze und sanitäre Anlagen müssen vorhanden sein. Der Träger muss bereit und in der Lage sein, Mindestöffnungszeiten täglich zu gewährleisten sowie die zusätzlichen Kosten für Energie und Sauberhaltung aufzubringen. Autobahnkirchen sind langfristig angelegt und auf Dauer als solche deklariert.
 

Zu welchen Öffnungszeiten können Verkehrsteilnehmer mit offenen Autobahnkirchen-Türen rechnen?

Die Autobahnkirchen sind zuverlässig tagsüber mindestens von 8 bis 20 Uhr geöffnet, manche von ihnen rund um die Uhr.
 

Finden Besucher zu den Öffnungszeiten der Autobahnkirchen immer einen Ansprechpartner, einen Pfarrer oder Priester vor Ort, wenn sie Redebedarf haben?

Überwiegend nein, dennoch ergeben sich immer wieder Seelsorgegespräche in den Kirchen. Dass zumeist keine Seelsorgenden anwesend sind, stört nicht. Viele Menschen nutzen das ausgelegte Anliegenbuch, um ihre Gedanken festzuhalten, zünden eine Kerze an und geben eine Spende.
 

Gibt es in allen Autobahnkirchen regelmäßig Gottesdienste?

In vielen Autobahnkirchen finden regelmäßig Andachten, Gottesdienste oder andere Veranstaltungen wie Konzerte oder Truckertreffs statt. Alle Infos dazu findet man unter www.autobahnkirche.de sowie auf den Websites oder Social-Media-Auftritten einzelner Autobahnkirchen.

 

Wer besucht Autobahnkirchen und warum?

Die Kirchen decken unterschiedliche Bedarfe und ziehen bis zu eine Million Besucher im Jahr an. Sie sind ein Ort für Ruhe und Spiritualität für Urlaubsreisende – die Kirchen bieten „Rast für die Seele“ –, für Geschäftsreisende und Lkw-Fahrer und -Fahrerinnen. Aber auch für Menschen, die gerade etwas Belastendes erlebt haben oder erleben wie einen Beinahe-Unfall oder Unfall, einen Krankenhausbesuch oder Krankheit. Sie bieten auch Erholungsmöglichkeit inklusive WC für Menschen auf Reisen.
Das Bedürfnis nach Anonymität im religiösen Kontext ist nicht zu unterschätzen. Menschen möchten aus verschiedenen Gründen nicht immer in ihrem Dorf oder ihrer Ortsgemeinde ein Kirchgebäude aufsuchen. Die Autobahnkirchen sind verlässlich geöffnet und bieten einen ansprechenden Raum mit einer besonderen Atmosphäre, der frei zugänglich ist – ohne Mitgliedschaft oder Verzehrzwang. Die ausliegenden Anliegenbücher werden rege genutzt, um sich Dinge von der Seele zu schreiben oder auch um Schutz zu erbitten oder zu danken. Geschätzt wird auch die Möglichkeit Kerzen anzuzünden.

 

Vor welchen Herausforderungen stehen die Autobahnkirchen?

Manche Autobahnkirchen würden sich über mehr junge Ehrenamtliche freuen. Manche spüren die kirchlichen Sparzwänge. Viele Autobahnkirchen sind durch Strukturen wie Vereine oder Stiftungen und viel ehrenamtliches Engagement aber auch ein Stück weit unabhängiger als manche Gemeinden. Ohnehin leisten die Autobahnkirchen gewissermaßen Pionierarbeit für eine Kirche, die mitten im Leben und im Alltag der Menschen zu finden ist und von ganz unterschiedlichen Menschen getragen wird.

 

Gibt es Autobahnkirchen oder so etwas ähnliches auch in anderen Ländern?

Es gibt vereinzelte Autobahnkirchen auch in Anrainerstaaten. In der Schweiz ist zurzeit eine Autobahnkirche im Entstehen. Ein Netz an Autobahnkirchen wie in Deutschland gibt es im Ausland jedoch nicht.

 

Ist das Netz an Autobahnkirchen vollständig oder sind weitere Autobahnkirchen geplant?

Zurzeit sind in Deutschland leider keine neuen Autobahnkirchen in Planung. Gerade in Nord- und Süddeutschland wäre es allerdings schön, wenn noch weitere Autobahnkirchen hinzukämen.
 

Matthias Stracke-Bartholmai ist Ansprechpartner für Autobahnkirchen
bei der Akademie des Versicherers im Raum der Kirchen (VRK).
Foto: VRK

Titelfoto: Bettina Glaser

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