24.01.2022 Wolfgang Sievernich

Level 3: Ablenken erlaubt

Das Kraftfahrtbundesamt hat Mercedes-Benz die weltweit erste Typgenehmigung für ein automatisches Spurhalte­system erteilt. Damit dürfen sich Autofahrer in bestimmten Situationen vom Verkehr abwenden. Geschwindigkeit, Abstand zum Vordermann und das Spurhalten regelt die Technik derweil selbst.


Zeitung lesen, im Internet surfen oder mitten im Verkehrsgeschehen auf dem Bildschirm eine TV-Sendung verfolgen? Das war bislang nur Mitfahrern gestattet. Künftig darf das auch der Fahrer, gesetzt den Fall, er sitzt ab Frühjahr diesen Jahres in einer Mercedes-Benz S-Klasse oder der elektrischen Variante EQS und hat den hochautomatisierten Modus namens Drive Pilot eingeschaltet.

Am 2. Dezember 2021 hat das Kraftfahrtbundesamt (KBA) dem Premiumhersteller dafür die weltweit erste und international gültige Typgenehmigung eines automatischen Spurhaltesystems erteilt. Dieses ist dem Automatisierungsgrad Level 3 zuzuordnen, bei dem der Fahrer das System nicht mehr dauerhaft überwachen muss. Automatisiertes Fahren ist in sechs Stufen untergliedert: In Stufe null hat der Fahrer alleine die volle Kontrolle über sein Fahrzeug, in der höchsten Stufe fünf wäre das Auto fahrerlos unterwegs.

Grundlage der Genehmigung für Stufe drei ist die UN-Regelung Nr. 157, die international harmonisierte Sicherheitsanforderungen an automatisierte Spurhaltesysteme definiert.

Maximal 60 km/h

Und diese begrenzt die Nutzung des Systems einerseits auf Schnellstraßen und Autobahnen, auf denen mehrspurig in eine Richtung gefahren werden kann, und andererseits auf eine Geschwindigkeit von maximal 60 km/h. Dabei dürfte es sich vorwiegend um Stausituationen oder das Fahren in sehr dichtem Verkehr handeln. Unter diesen Voraussetzungen darf der Fahrer mit eingeschaltetem System fahrfremde Tätigkeiten ausüben, muss aber jederzeit bereit sein, das Steuer wieder zu übernehmen. Um die Übernahmefähigkeit sicherzustellen, beobachtet eine Kamera im Fahrer-Display die Bewegung von Kopf und Augenlidern, zudem erfasst die Sitzbelegungserkennung, ob der Fahrersitz noch besetzt ist. Der Autofahrer darf seinen Blick vom Verkehrsgeschehen abwenden und sich beispielsweise Mitfahrern zuwenden, auf dem Bildschirm im Internet stöbern, einen Film schauen oder ganz klassisch in der Zeitung blättern. Im automatisierten Modus hält das Fahrzeug derweil selbst die Spur und den Abstand zum Vordermann ein und regelt die Geschwindigkeit.

Doch kein Vorteil ohne Nachteil, und so sind bei der Nutzung des Drive Pilot einige Punkte zu beachten. „Schlafen, dauerhaft nach hinten blicken oder gar den Fahrersitz verlassen ist nicht zulässig“, schränkt eine Sprecherin von Mercedes-Benz ein. Das System lässt sich zudem bei Nacht, Starkregen, starker Gischt durch Vorausfahrende, Frost, Schnee, Schneematsch und Eis gar nicht erst aktivieren. Auch Tunnel, Baustellen und Fahrstreifen ohne Fahrbahnmarkierung sind ein Hinderungsgrund. Fängt es im automatisierten Modus an zu schneien oder zu regnen, erhält der Fahrer eine akustische und haptische Aufforderung, die Kontrolle zu übernehmen. Zeigt der Fahrer dabei keine Reaktion, bremst der Wagen nach zehn Sekunden selbstständig in der Fahrspur bis in den Stillstand ab.

Kommt es im Drive-Pilot-Modus dennoch zum Unfall, haftet der Hersteller und nicht der Fahrer, sofern diesem kein schuldhaftes Versäumnis nachzuweisen ist.  Ignoriert dieser beispielsweise die Übernahmeaufforderung, muss er sich verantworten.

Titelfoto: Daimler