10.02.2023 Wolfgang Sievernich

Ökoreifen auf dem Vormarsch

Nachhaltige Rohstoffe und Recyclingverfahren sollen Reifen klimaneutral machen

Viele Reifenhersteller wollen zum Erreichen der EU-Klimaneutralität bis zum Jahr 2050 Reifen komplett aus nachhaltigen oder recycelten Materialien herstellen. Dafür experimentieren Industrie und Wissenschaft mit Rohstoffen auf Pflanzenbasis und Recycling. Selbst neue Reifenarchitekturen wären möglich, um Abfall künftig zu vermeiden.


Sie stellen den einzigen Kontakt eines Fahrzeugs zum Untergrund dar und sind so viel mehr als nur schwarz und rund – Reifen. Hätten Sie gedacht, dass Autoreifen aus über 200 verschiedenen Materialien bestehen können? Dazu gehören Natur- und Synthesekautschuk, Ruß, Silica, Stahl- und Textilverstärkungen sowie verschiedene Chemikalien.

Mit 30 bis 40 Prozent entfällt der größte Anteil der Rohstoffe auf Natur- und Synthesekautschuk. Letzterer wird aus Erdöl gewonnen, besitzt aber ein schlechteres Abriebverhalten als Naturkautschuk. Dieser ist ursprünglich im südamerikanischen Amazonasbecken beheimatet. Der Latex des Naturkautschukbaums wird heute vorwiegend von Kleinbauern im tropischen Klima Südostasiens gewonnen. Hauptanbauländer sind Thailand, Indonesien, Malaysia und Vietnam. Um an den Latex zu gelangen, ritzen die Arbeiter Schnitte in die Rinde, sodass der Saft austreten, aufgefangen und zu Pulver oder festen Platten weiterverarbeitet werden kann. Ökologisch bedenklich: Die meisten Naturkautschukbäume wachsen in Monokulturen, für die oftmals wertvolle Regenwälder weichen müssen, was wiederum große Mengen an Treibhausgasen freisetzt und direkte Auswirkungen auf den Klimawandel hat.

 

12 Millionen Tonnen Kautschuk lassen sich jährlich aus Saft von Kautschukbäumen herstellen. Foto: stock.adobe.com/© THAWISAK

Wie das Südwind-Institut für Ökonomie und Ökumene in einer Studie im Jahr 2019 herausgearbeitet hat, stammen 75 Prozent der Kautschukbäume weltweit von neun Samen ab, was im Zuge der weiteren Züchtungen dazu führte, dass der Genpool stark reduziert ist und die Bäume trotz hohem Einsatz an Pestiziden anfällig für Krankheiten sind. Zu den größten Krankheitserregern gehört etwa der Schlauchpilz, der vor über 80 Jahren in Brasilien alle Kautschukplantagen vernichtete. Sollte der Pilz auch auf asiatische Regionen übergreifen, könnte das die Kautschukindustrie existenziell bedrohen. Neben erheblichen ökologischen Risiken ist es in einzelnen Ländern zudem zu massiven Menschenrechtsverletzungen und Landvertreibung gekommen. Auch die Arbeitsbedingungen sind hart: So muss sich ein Arbeiter um etwa 450 bis 600 Bäume pro Hektar Anbaufläche kümmern. Ansätze nachhaltiger Lieferketten und zertifizierten Kautschuks beschränken sich bislang nur auf Nischenprojekte.

Vorwiegend für Reifen

Angaben des Fraunhofer-Instituts für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie (IME) zufolge verbraucht die Reifenindustrie 70 Prozent der Weltproduktion von derzeit rund 12 Millionen Tonnen Naturkautschuk pro Jahr. Im Hinblick auf jährlich etwa 1,6 Milliarden weltweit produzierter Autoreifen, den enormen ökologischen und sozioökonomischen Folgen des Kautschukanbaus sowie den Zielsetzungen vieler Reifenhersteller, Pneus bis zum Jahr 2050 vollständig nachhaltig herzustellen, ist es an der Zeit, Alternativen zu finden.

Bislang wurde in etwa 2.500 Pflanzen Kautschuk identifiziert. Eine davon ist sogenannter Russischer Löwenzahn. Das Gewächs wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts in Kasachstan entdeckt, seit den 1930er-Jahren diente der Latex aus der Löwenzahnwurzel unter anderem zur Herstellung von Autoreifen. Zwischenzeitlich von synthetischem Kautschuk aus fossilen Rohstoffen abgelöst, gewinnt die robuste Pflanze seit Mitte der 2000er-Jahre für Forscher und Reifenhersteller wieder an Bedeutung. Ihre Vorteile: Gegenüber dem Kautschukbaum ist sie anspruchslos, gedeiht selbst an marginalen Standorten, die für andere Kulturpflanzen ungeeignet sind, und lässt sich transportgünstig auch im gemäßigten Klima Europas anbauen. 

Im PLANT-2030-Projekt Tarulin forschen Fraunhofer-IME-Wissenschaftler mit der Universität Münster und dem Reifenhersteller Continental an der landwirtschaftlichen Nutzung der Pusteblume. 

Unkraut problematisch

Russischer Löwenzahn wächst im gemäßigten Klima Europas. Foto: Continental
In den Wurzeln und Stängeln des Guayule-Strauches findet sich Latex, das für die Reifenproduktion genutzt wird. Foto: Bridgestone

Dabei stellten die Forscher fest, dass sich pro Hektar Anbaufläche über eine Tonne Latex aus Löwenzahn extrahieren lässt. Zum Vergleich: Auf gleich großer Anbaufläche kommen Kautschukbäume auf einen Ertrag von etwa 1,5 Tonnen Latex – bei wesentlich höherem Pflegeaufwand. Die Problematik beim Löwenzahnanbau liegt allerdings in der Unkrautbekämpfung. Noch gibt es für das von Gärtnern häufig selbst als Unkraut bezeichnete Gewächs keine zugelassenen Herbizide. Die Ackerbeiflora muss momentan aufwendig mechanisch vernichtet werden. Trotz des Aufwands entschloss sich Continental dazu, Kautschuk aus Löwenzahn erstmals für die Produktion von Fahrradreifen zu verwenden.

Eine weitere alternative Naturkautschuk-Quelle ist der in Mexiko beheimatete Guayule-Strauch. Der Latex findet sich in den Wurzeln und Stängeln der Pflanze. Treibende Kraft bei der Erforschung des Guayule-Anbaus ist der japanische Reifenhersteller Bridgestone. Seit 2012 betreibt das Unternehmen in Arizona (USA) zwei Verarbeitungs- und Forschungszentren. Da der Guayule-Strauch nur sehr wenig Wasser benötigt, lässt er sich in Wüstengebieten anbauen, ohne in Konkurrenz zu anderen Pflanzen zu treten.

Start im Rennsport

Im vergangenen Jahr hat Bridgestone erstmals Guayule-Kautschuk in einer Kleinserie im Motorsport verwendet. Unter dem Banner von Tochter-Firma Firestone stattet das Unternehmen die US-amerikanische Indycar-Series mit Reifen aus, deren Seitenwand aus Guayule-Kautschuk besteht.
Auch Reifenhersteller Michelin setzt auf den Motorsport als Testfeld und hat im Jahr 2021 einen Rennreifen vorgestellt, in dem Rohstoffe wie Sonnenblumenöl, Kiefernharz und Orangenschalen verarbeitet wurden.

Neben alternativen Rohstoffen setzt die Reifenindustrie bei nachhaltigen Pneus auch auf Recycling. Füllmaterialien wie Industrieruß kommen auf einen Anteil von etwa 30 Prozent im Reifen und werden bislang aus fossilen Rohstoffen hergestellt. Allein drei Kilogramm Industrieruß sind in einem Pkw-Reifen enthalten. Für die Herstellung einer Tonne Industrieruß benötigt man aber etwa 1,5 Tonnen fossiler Rohstoffe, dabei entstehen bis zu drei Tonnen Kohlenstoffdioxid. Das Fraunhofer-Institut für Bauphysik (IBP) hat deshalb ein Recycling-Verfahren für Altreifen entwickelt, das den enthaltenen Industrieruß separiert.  Dieser könnte bei der Neureifenherstellung für die Seitenwand genutzt werden. Das Verfahren soll nicht nur helfen, die Reifenproduktion nachhaltiger zu gestalten, sondern auch Müll zu reduzieren. Immerhin lagern auf den Deponien weltweit etwa vier Milliarden Altreifen.
 

Aus gebrauchten PET-Flaschen lässt sich Polyestergarn recyceln, das für den Bau von Reifen genutzt werden kann. Foto: stock.adobe.com/© fotofuerst
Auf den Deponien weltweit lagern etwa vier Milliarden Altreifen. Foto: stock.adobe.com/© Heiko Küverling

Aufgrund bestehender Qualitätsanforderungen erfolgt der Einsatz von Recycling-Material aus Altreifen bei der Herstellung von Neureifen bislang aber nur in geringem Umfang. Und das hat Gründe: „Das Hauptproblem ist generell, dass ein nachhaltiges Substitut in größerem Maße infrage kommt, je besser und stabiler dessen Qualität garantiert werden kann“, sagt Martina Schipke, Sprecherin des Bundesverbandes Reifenhandel und Vulkaniseur-Handwerk. „Bei Reifenmischungen ist es nur zu einem sehr geringen Prozentsatz möglich, Polymere oder Füllstoffe durch Rezyklat aus Altreifen zu ersetzen, da deren Qualität zu inhomogen ist.“

Wie man Abfall wiederverwenden kann, beweist Reifenhersteller Goodyear mit Reishülsenasche. Für die Herstellung von Reifen nutzt die Industrie bislang aus Quarzsand gewonnene Kieselsäure respektive Silica als Füllstoff. Alternativ lässt sich aus der Asche der nach dem Mahlvorgang von Reis als Abfall übrig bleibenden und üblicherweise verbrannten Außenhüllen ein gleichwertiger Ersatzstoff herstellen, den Goodyear anteilsmäßig bereits in seiner Reifenproduktion nutzt.

Statt Polyestergarn aus Erdöl testet Michelin recyceltes Garn aus Plastikmüll. Das ist im Reifen in der sogenannten Textilkordeinlage enthalten, einer Schicht, die sowohl den Innendruck als auch den Reifen in Form hält. „143 Joghurtbecher und 12,5 Plastikflaschen könnten zukünftig in einem einzelnen Reifen verarbeitet werden“, sagt Armin Kistner, Technischer Direktor von Michelin. Im Recyclingwerk wird das Material sortiert, die Verschlusskappen werden entfernt und das Plastik maschinell gereinigt. Nach der mechanischen Zerkleinerung erfolgt die Weiterverarbeitung zu PET-Granulat und schließlich zu gesponnenem Polyestergarn. Arne Kouker, Sprecher von Continental sagt dazu: „Es hat die gleiche Qualität wie PET-Neuware und ist ebenso stabil sowie aufgrund der Bruchfestigkeit, Zähigkeit und thermischen Stabilität besonders gut für Reifen geeignet.“ Der deutsche Reifenhersteller hat seit Mitte des vergangenen Jahres bereits drei Reifenmodelle (PremiumContact 6, EcoContact 6, AllSeasonContact) mit gesponnenem Polyestergarn aus PET-Flaschen im Handel. Mit dem Recycling-Verfahren sollen sich jährlich etwa vier Milliarden PET-Flaschen wiederverwerten lassen.

Erneuerte Lauffläche

Doch nicht nur Rohstoffe und Recycling-Verfahren helfen, Reifen nachhaltiger zu machen. In Zusammenarbeit mit Citroën hat Goodyear für das Konzeptfahrzeug Oli einen Reifen entwickelt, dessen Lauffläche zweimal erneuert und die Karkasse dadurch länger genutzt werden kann. Goodyear zufolge seien damit pro Rad Laufleistungen von bis zu 500.000 Kilometern möglich.
 

Goodyear hat für das Citroën-Konzeptfahrzeug Oli einen Reifen entwickelt, dessen Lauffläche erneuert werden kann. Foto: Arnaud Taquet @ Continental Productions

Auch die Runderneuerung von Reifen könnte auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit eine Renaissance erleben. Nach einer aktuellen Studie des Fraunhofer-Instituts für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik (UMSICHT) verursachen runderneuerte Pkw-Reifen in der Fertigung rund 21 Kilogramm oder 63,6 Prozent weniger CO2-Emissionen als qualitativ vergleichbare Neureifen. Für die Herstellung runderneuerter Reifen werden etwa zwei Drittel weniger Rohstoffe benötigt als für qualitativ vergleichbare Neureifen, was natürliche Ressourcen schont. Im Jahr 2021 konnten durch runderneuerte Pkw- und Lkw-Reifen bundesweit rund 37.000 Tonnen Rohstoffe eingespart werden.

Doch was der Umwelt dient, muss nicht unbedingt verkehrssicher sein. So patzte im Jahr 2020 ein runderneuerter Pkw-Hochgeschwindigkeitsreifen mit Geschwindigkeitsindex W (bis 270 km/h) im Test von TÜV Süd und der Autozeitschrift auto-illustrierte. In den Disziplinen Bremsen und Handling verlor der runderneuerte Reifen aus deutscher Herstellung deutlich gegenüber einem Neureifen, auf dem Prüfstand kam es unter Höchstgeschwindigkeit sogar zu einem Reifenplatzer. Auch wenn ein Einzeltest keinen Spiegel für den Gesamtmarkt darstellen muss, sind runderneuerte Reifen für Pkw aus Umweltsicht vielleicht die Zukunft, aber aus Sicht der Verkehrssicherheit zum gegenwärtigen Zeitpunkt leider doch noch zweite Wahl.

 


Hersteller setzen auf Nachhaltigkeit

Foto: Michelin

Pkw

Michelin hat im Oktober 2022 einen Autoreifen mit Straßenzulassung vorgestellt, der zu 45 Prozent aus nachhaltigen Materialien besteht. Der Reifenhersteller verwendet Naturkautschuk, recycelten Ruß, Sonnenblumenöl, biobasierte Harze und Silica aus Reisschalen. Unter anderem kommt in den Reifengürteln recycelter Stahl zum Einsatz. Innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre will Michelin Reifen mit einem hohen Anteil nachhaltiger Materialien auf den Markt bringen. Bis 2030 sollen 40 Prozent des Produktprogramms und bis 2050 sogar das gesamte Portfolio auf biobasierte, erneuerbare oder recycelte Materialien umgestellt werden.

Foto: Goodyear

Lkw

Im September 2022 stellte Goodyear einen Protoypen-Reifen für Nutzfahrzeuge vor, der zu 63 Prozent aus nachhaltigen Materialien besteht. Der Pneu ist mit der Kraftstoffeffizienzklasse A gekennzeichnet und bietet damit das gleiche Spritsparpotenzial wie die effizientesten konventionellen Lkw-Reifen des Herstellers. Neben Rapsöl, Silica aus Reisasche und Polyester aus Kunststoffflaschen sind auch vier verschiedene Arten von Ruß aus pflanzlichem Öl, Pyrolyseöl aus Altreifen, Kohlenstoffdioxid und Methan enthalten. Sensoren kontrollieren Druck und Reifenbeschaffenheit und sollen helfen festzustellen, wann der Reifen ausgetauscht werden muss.

Foto: Continental

Fahrrad

Continental gewann im Jahr 2021 für seinen Fahrradreifen namens Urban Taraxagum den Deutschen Nachhaltigkeitspreis in der Kategorie „Verantwortungsvolles Design“. Anders als Pkw- und Lkw-Reifen gibt es den Fahrradreifen bereits im Handel zu kaufen. Der verwendete Kautschuk aus Russischem Löwenzahn stammt aus der eigenen Versuchsanlage in Anklam in Mecklenburg-Vorpommern. Produziert wird der Reifen seit 2018 im Continental-Reifenwerk im hessischen Korbach. Künftig will Continental das sogenannte Taraxagum auch für Pkw- und Lkw-Reifen sowie Reifen für den Agrarbereich und technische Gummiwaren nutzen.

Titelfoto: stock.adobe.com/© bluedesign