23.02.2021 Jessica Blank

Wie Kinder für den Straßenverkehr lernen

Den komplexen Anforderungen des Straßenverkehrs müssen Kinder im wahrsten Sinne des Wortes erst einmal gewachsen sein. Nicht in jeder Altersklasse kann man das korrekte Verhalten und die richtige Wahrnehmung in mitunter gefährlichen Situationen erwarten. Wir erklären in der zweiten Folge unserer ­Serie, was die Jüngsten wann überhaupt lernen und dann auch ausführen können.


Ein kleines Mädchen steht am Straßenrand und hält sich die Augen zu. Es ist überfordert und denkt: „Wenn ich die Autofahrer nicht sehen kann, nehmen sie mich auch nicht wahr.“ Bis zu einem Alter von fünf Jahren ist dieses sogenannte magische Denken eine typische kindliche Denk- und Verhaltensweise. Wissenschaftler der Technischen Universität Dresden haben herausgefunden, dass für eine selbstständige Verkehrsteilnahme die Entwicklung von 39 Kompetenzen in sieben Funktionsbereichen nötig ist: Sehen, Hören, Aufmerksamkeit, Motorik, Kognition, sozial-emotionale Kompetenz und Selbstregulation sowie exekutive Funktionen. Doch nicht einzelne Kompetenzen sind entscheidend, um eine Handlung sicher auszuführen, sondern deren Zusammenspiel und ihre Übertragung in Handlungsentscheidungen. „Was Kinder grundsätzlich können, ist die Kompetenz. Und wie sie dann vor Ort handeln, ist die Performanz“, erklärt Prof. Dr. Bernhard Schlag, Verkehrspsychologe an der TU Dresden.

Sensorik ausgereift

Besonders sensorische Funktionen wie Sehen und Hören sind bereits früh gut ausgeprägt. Dennoch fällt es kleinen Kindern schwer, die Wahrnehmung umzusetzen. „Sie haben eigentlich scharfe Sinne, aber können diese noch gar nicht richtig interpretieren“, sagt Prof. Schlag. Spätestens mit fünf Jahren gelingt es Kindern, Farben sowie Hell und Dunkel gut auseinanderzuhalten. So sehen sie, wenn eine Ampel von Grün auf Rot springt – und wissen, was das bedeutet. Fünf- oder Sechsjährige schaffen es teilweise noch nicht, zwischen einem stehenden oder fahrenden Fahrzeug zu unterscheiden. Entfernungen einzuschätzen, ist für sie bis neun Jahre schwierig. Erst dann entwickelt sich das Tiefenschärfesehen. Die Fähigkeit, Geschwindigkeiten zu beurteilen, ist selbst mit 14 Jahren noch nicht sicher ausgeprägt. Und die geringere Körpergröße macht es grundsätzlich nicht leicht, ist die Sicht doch oft versperrt. Kinder hören auch anders als Erwachsene. Sie können aus vielen Geräuschen nicht die wichtigen herausfiltern. Sie hören nur, was sie gerade interessiert. Schüler mit sechs oder sieben Jahren erkennen nicht, aus welcher Richtung ein Geräusch kommt. Insgesamt brauchen Kinder länger, um Sinneseindrücke zu verarbeiten als Erwachsene.

Junge Verkehrsteilnehmer lassen sich schnell ablenken. Zudem können sie nicht mehrere Dinge gleichzeitig wahrnehmen oder tun. Das erklärte schon einer der bekanntesten Entwicklungspsychologen des 20. Jahrhunderts, Jean Piaget, dessen Vier-Stufen-Modell (s. Kasten am Ende) gut auf den Straßenverkehr anwendbar ist. Bis zum Schulalter ist demnach eine selbstständige Teilnahme am Straßenverkehr nicht denkbar, denn die Eingleisigkeit des Denkens und das egozentrische Weltbild machen es kleinen Kindern unmöglich, sich in andere hineinzuversetzen. Erst ab sieben Jahren entwickeln sie mehr Verständnis für Verkehrssituationen, können das Gelernte aber nur in bekannten Umgebungen umsetzen. Sie nehmen andere Perspektiven ein und sehen den Verkehr als sozialen Raum, in dem unter erschwerten Kommunikationsbedingungen unterschiedliche Interessen aufeinandertreffen. Erst ab zwölf Jahren schätzen Kinder komplexe Vorgänge besser ein, denken situativ und übertragen Regeln und Verhaltensweisen in neue Umgebungen.

Bei den Exekutivfunktionen, die die sensorischen und motorischen Anlagen umsetzen sollen, sind besonders der Aufgabenwechsel oder das Multitasking eine große Herausforderung. „Es ist für Kinder durchaus schwierig, eine Tätigkeit bei Gefahr sofort zu unterbrechen“, erklärt Prof. Schlag. Kinder würden sich oft in einer attraktiven Spielsituation sehen. „Wenn das im Straßenverkehr stattfindet, so kollidiert das mit einem bewussten und regeltreuen Verhalten.“

Nicht früh genug

Wann ist es also sinnvoll, Kinder auf den Straßenverkehr vorzubereiten? „Eigentlich kann man nicht früh genug damit anfangen. Aber nicht mit Androhung von Strafe und Reglementierung, sondern das, was Kinder von sich aus machen wollen, sollte in Bahnen stattfinden, dass das auch sicher möglich ist“, erläutert Prof. Schlag. Gerade kleine Kinder würden sehr stark über das Vorbild lernen. „Modelllernen ist die Lernart, wodurch Neues am stärksten zu vermitteln ist.“

Ab welchem Alter ein Kind soweit ist, selbstständig am Verkehrsgeschehen teilzunehmen, lässt sich pauschal nicht sagen. Mit Erstklässlern sollten Eltern den Schulweg intensiv üben und sich letztlich von ihrem Kind führen lassen, um das Gelernte zu überprüfen. „Man muss schauen, dass die kognitiven Funktionen so ausgeprägt sind, dass die Kinder Gefahren voraussehen können“, meint der Verkehrspsychologe. Sechsjährige verfügen über ein akutes Gefahrenbewusstsein: Sie erkennen eine gefährliche Situation erst, wenn sie eingetreten ist. Zeit zum Handeln bleibt kaum. Erst mit acht Jahren bemerkt ein Kind eine Gefahr zunehmend im Vorfeld. Es kann sich die weitere Entwicklung der Situation vorstellen und das Geschehen beeinflussen. Bewusst so zu handeln, dass mögliche Gefahren gar nicht erst eintreten, gelingt Kindern mit neun oder zehn Jahren.

Doch auch wenn Schüler ihre Wege sicher beherrschen, können sie durch äußere Reize und Einflüsse schnell abgelenkt werden. „Dann entsteht die Situation, dass, obwohl das Kind es im Grunde kann, dieses Können nicht mehr ausgespielt wird“, sagt Prof. Schlag.

Infrastruktur anpassen

Für den Verkehrspsychologen ist es aber auch wichtig, nicht nur bei den Kindern anzusetzen, sondern bei der Gestaltung der Straßen und Wege, bei der Geschwindigkeit, die in Städten und auf dem Schulweg erlaubt ist. „Infrastrukturelle Maßnahmen sind das A und O dafür, dass sich Kinder auch in nicht so hohem Alter sicher draußen bewegen können.“ Wenn es die Situation ermöglicht, können Erstklässler den Schulweg nach einiger Übungszeit alleine bewältigen. Seien aber gefährliche Überquerungen auf diesem Weg, werde es schwieriger, sagt Prof. Schlag. „Dann kann es sein, dass sie das auch mit sieben oder acht noch nicht können, obwohl das super geübt ist, und sie eigentlich die Kompetenzen besitzen. Aber die Umwelt stellt Anforderungen, die nicht zu 100 Prozent von den Kindern bewältigt werden können. Und das will man ja. Man will ja nicht, dass sie es zu 90 Prozent richtig machen, sondern bitte immer“, macht er deutlich. „Wir bestrafen im Straßenverkehr sozusagen durch die Infrastruktur und das Fehlverhalten anderer Verkehrsteilnehmer ein geringes Fehlverhalten mit extremen Konsequenzen. Das darf nicht sein.“                     

Piagets Vier-Stufen-Modell: Der Weg zum abstrakten Denken

1. Sensomotorische Stufe (0 bis 2 Jahre): In den ersten beiden Lebensjahren wird die Basis der ­kognitiven Entwicklung gebildet, von „Denken“ kann noch nicht die Rede sein. Babys und Kleinkinder ­lernen, Bewegung und Wahrnehmung aufeinander abzustimmen.

2. Voroperationale Stufe (2 bis 6-7 Jahre): Kinder entwickeln Vorstellungen von Dingen und
ahmen sie nach. Sie können aber konkrete ­Anschauungen nicht in einen anderen Kontext übertragen. Kinder denken egozentrisch. Es ist ihnen
nicht möglich, fremde Perspektiven einzunehmen, und ­sie reagieren stark auf äußerliche Reize.
 
3. Konkret-operationale Stufe (7 bis 12 Jahre): Das Denken ist nicht mehr ausschließlich an Anschauungen gebunden, die Kinder denken weniger eingleisig und durchschauen Zusammenhänge. Die Vorstellungskraft nimmt zu. Zeiträume können Schüler noch nicht so gut einschätzen, Entfernungen in einer bekannten Umgebung schon. Sie versetzen sich nun in andere Menschen hinein.

4. Formal-operationale Stufe (ab 12 Jahre): In diesem Alter denken Kinder wie Erwachsene. Sie können logisch und abstrakt kombinieren und sich mit Dingen aus­einandersetzen, die nichts mit ihren eigenen Lebens­umständen zu tun haben.

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