24.08.2020 Thomas Schreiner

VW Golf 1,5 TSI: Träne verdrückt

Über 35 Millionen Exemplare wurden bislang von acht Generationen Golf gebaut. Da liegt es nahe, dass viele Menschen ganz persönliche Erinnerungen mit diesem Auto verknüpfen.


So wie der Autor dieser Zeilen, der anlässlich des oryxweißen Testwagens vor der ARCD-Clubzentrale in der eigenen Vergangenheit nach Golf-Erlebnissen wühlte, und dabei sentimental manche Träne verdrückte. Zum Beispiel beim Gedanken an den roten Pirelli Golf I GTI des Zivildienstkollegen, der damit ein Held war. Oder an den Golf II des besten Kumpels, gemeinsames Musikhören über das Kassettenradio auf stundenlangen Fahrten inklusive. Die Gedanken schweiften auch zum Mitschüler in der Fahrschule, der mit Mitte 50 noch den Führerschein nachholen wollte. Ziel seiner Sehnsüchte: ein neuer Golf III.

Das vierte Modell irritierte mit seiner blauen Instrumentenbeleuchtung. Und als noch niemand von Pop-up-Läden sprach, stand plötzlich der Golf V zur Präsentation mitten im Einkaufszentrum. Modell VI – endlich leuchteten die Instrumente weiß – bescherte dem Golf seine letzte Cabrioversion. Dann der Golf VII, dessen scharfkantiges Blechkleid auch heute noch, acht Jahre nach dem Erscheinen, frisch wirkt. Schließlich der Golf VIII, unser Testwagen, der sich rein äußerlich von Nummer VII nur wenig unterscheidet. Am ehesten fallen die leichten Tränensäcke am unteren Rand der Frontscheinwerfer ins Auge. Muss da etwa jemand weinen?  

Neue Rolle gesucht

Vielleicht der Golf selbst. Bei seinem holprigen Marktstart wurden ihm einige Steine in den Weg gelegt: Händler klagten über eine anfangs eingeschränkte Modellpalette, es folgten Probleme beim elektronischen Notruf­assistenten einschließlich zwischenzeitlichem Auslieferungsstopp und ein handfester Skandal um ein Werbe­video mit rassistischen Verfehlungen. Dazu schultert der Golf die Bürde, das Geld verdienen zu müssen, das VW für die Weiterentwicklung der E-Mobilität benötigt. Zugleich sieht er angesichts des ID.3 (Kasten rechts und Fahrbericht in der Oktober-Ausgabe) seine Bedeutung schwinden. Die E-Variante des alten Golf VII erhält keinen Nachfolger. Ist der bisherige Beststeller also insgesamt ein Auslaufmodell? So weit ist es noch nicht. Denn auch der neue Golf ist wieder ein Auto, das selbst eigentlich nicht aneckt.

Das sehr gut verarbeitete Cockpit wirkt edel mit Dekoreinlagen und Ambi­ente­beleuchtung der dritthöchsten von vier Ausstattungsstufen Style. Die Materialien fassen sich angenehm an. Wo Hartplastik eingesetzt ist, gibt es keine scharfen Grate.

Links neben dem Kombiinstrument sind berührungsempfindliche Bedienflächen für die Licht-Funktionen und die Heizung der Front- und Heckscheibe gruppiert. Die Bedieneinheit rückt damit ein Stück höher als der frühere Licht-Drehschalter und liegt daher besser im Blickfeld.

Zum serienmäßigen digitalen Cockpit gehören mindestens ein Infotainmentsystem, ein Multifunktionslenkrad und das zehn Zoll große Kombi­ins­trument. Auf dem mehrfarbigen zentralen Bildschirm lassen sich neben der Karte für die Navigation noch unterschiedliche Info-Profile an­zeigen. Die digitale Bedienungs-Architektur soll die Vernetzung von Funktionen und die Online-­Anbindung gewährleisten, um künf­tig mehr digitalisierte Dienste anzubieten. Eine Online-Connectivity-Einheit mit eSIM-Karte für die Vernetzung via Cloud ist immer an Bord.

Beim aufpreispflichtigen Navigationssystem Discover Pro mit „Innovision Cockpit“ befindet sich unter dem Display der Mittelkonsole ei­ne berührungssensitive Slider-Leiste, die in drei Zonen unterteilt ist. Durch Wischen auf dem linken oder rechten äußeren Feld wird die Temperatur für Fahrer oder Bei­fahrer eingestellt. Über die mittlere Zone des Slider-Elements wird die Lautstärke des Soundsystems reguliert. Im Navi-Modus lässt sich hier mit zwei Fingern der Zoom-Faktor ändern. Touch-Elemente darunter, zwischen den Lüftungsdüsen, bieten schnellen Zugriff auf weitere Klimafunktionen, Assis­tenten sowie ausstattungsabhängig auf Fahrmodi und Parkhilfen.

Ebenfalls tadellos ist das präzise Lenk- und auch das komfortable Fahrverhalten. Selbst Lastwechselreaktionen in Kurven bringen den gutmütigen Golf nicht aus der Ruhe. Der 96 kW/130 PS leistende 1,5-Liter-Turbobenziner ist kräftig genug, sodass kein dringender Wunsch nach mehr aufkommt. Im Alltagsbetrieb verbrannten wir mit Sechsgang-Handschaltung gemessene 6,6 Liter auf 100 Kilometer, während der Bordcomputer auf gleicher Strecke erheblich optimistischere Angaben machte.

Über die niedrige Ladekante ist der 381 Liter fassende Kofferraum leicht zu beladen. Bei größerem Transportbedarf genügen zwei Handgriffe, um die geteilte Rückbanklehne fast eben für maximal 1237 Liter Stauvolumen komplett umzulegen. Nur wenn der doppelte Kofferraumboden ganz nach unten gesetzt wird, entsteht eine Stufe auf der Ladefläche.  

Ein Golf bleibt ein Golf

Wer von einem älteren auf den aktuellen Golf umsteigt, sollte etwas Zeit mitbringen, um sich an die digitalisierte Bedienung zu gewöhnen. Nicht jeder wird das neue Konzept intuitiv finden.

Trotzdem bleibt der achte Golf ein echter Golf: Ein kompaktes Auto mit Platz für fünf Personen, das in gefühlte 90 Prozent aller Alltagssituationen passt und jedem gut steht. Nur volksnah war der Preis unseres Testwagens mit 37.650 Euro nicht mehr. Auch wenn Optionen wie Rück­fahrkamera, das große Navi Discover Pro, Harman-­Kardon-Soundsystem, Head-up-Display, LED-Matrix-Scheinwerfer und adaptives Fahrwerk enthalten waren. Dass ein Golf teuer sein kann, ist aber nicht neu. Immerhin gibt es ihn schon ab etwa 20.000 Euro. 

Der Golf 8 hat eine breite Kofferraumöffnung. Foto: Thomas Schreiner

Daten VW Golf 1,5 TSI Style

Motor:  1,5-l-Vierzylinder-Turbobenziner, 96 kW/130 PS, 200 Nm bei 1400–4000/min

Antrieb, Getriebe: Front, Sechsgang manuell

0–100 km/h, Spitze: 9,2 s, 214 km/h

Norm-/Testverbrauch: 6,1 (WLTP)/6,6 l S

CO2-Ausstoß Norm/Test: 142 (WLTP)/153 g/km

Länge x Breite x Höhe: 4,40 x 1,79/2,07 x 1,49 m

Radstand, Wendekreis: 2,62 m, 10,9 m

Kofferraum: 381–1237 l

Leergewicht, Zuladung: 1.415 kg, 385 kg

Anhängelast: 1.400 kg

Stützlast, Dachlast: 80 kg, 75 kg

Tankinhalt: 45 l

Typklassen KH/VK/TK: 13/20/20

Grund-, Testwagenpreis: 28.735 € / 37.650 €

Modell verfügbar ab: 19.995 €

Auswahl Basis-Serienausstattung: Sechs Airbags, Notbremsassistent mit Fußgänger-/Radfahrererkennung, aktiver Spurhalteassistent, Müdigkeitserkennung, ­LED-Scheinwerfer, LED-Rückleuchten, Außenspiegel elektr. einstell- und beheizbar, Fahrersitz höhenverstellbar, Multifunktionslenkrad, Klimaautomatik, Infotainmentsystem Composition, digitales Cockpit (mehrfarbig)

Könnte der ID.3 der Nachfolger des berühmten Golf sein? Foto: Volkswagen

VW ID.3: Golf der neuen Generation?

Der ID.3 ist für VW wohl das wichtigste Neuwagen-Projekt seit dem Start des Golf 1974. Der elektrische Fünftürer soll jetzt das Wolfsburger Elektro-Zeitalter begründen. Als erstes Auto aus dem sogenannten Modularen Elektrifizierungsbaukasten (MEB) steht er an der Spitze von über 30 künftigen Modellen bei VW, Audi, Seat und Skoda. Gelingt VW die Elektrifizierung der Massen, hätte der ID.3 eine ähnliche Bedeutung wie einst der Golf. Begleitend zum MEB soll der Ladeservice We Charge Zugang zu etwa 150.000 öffentlichen Ladepunkten in Eu­ro­pa ermöglichen. Der Service behinhaltet Kundenkarte und App. Je nach Nutzungsfrequenz öffentlicher Ladepunkte stehen drei Tarife zur Wahl.

Vorbesteller erhalten in diesen Tagen die ersten Exemplare. Alle ansonsten zunächst bestellbaren ID.3 werden mit 150 kW/204 PS und 310 Newtonmeter starkem Heckantrieb kombiniert. Mit 58-kWh-Akku (420 km Reichweite nach WLTP) kostet die Basis „Pro Performance“ rund 35600 Euro. Zudem stehen für diese Akkuversion sechs weitere vorkonfigurierte Ausstattungsvarianten zur Wahl. Alternativ kann der ID.3 mit 77-kWh-Akku für 550 Kilometer Reichweite (WLTP) bestellt werden. Dafür werden rund 40900 Euro aufgerufen. Noch in diesem Jahr soll auch das unter 30.000 Euro liegende Einstiegsmodell „Pure“ mit 330 Kilometern WLTP-Reichweite (45 KWh) bestellbar sein. Ein Jahr kostenlosen Strom (bis 600 Euro) gibt es zu Beginn obendrauf. Förderprämien sind jeweils abzuziehen.

Die nackten Zahlen versprechen mehr Platz als im Golf. Zwar ist der ID.3 mit 4,26 Metern etwas kürzer. Dafür gewährt der 13 Zentimeter größere Radstand Kniefreiheit. Auch der Kofferraum fast mit 385 Litern mehr.

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