07.07.2021 Wolfgang Sievernich

Virtuelle Außenspiegel: Versteckte Kamera

Anstelle herkömmlicher Innen- und Außenspiegel setzen einige Hersteller alternativ auf digitale ­Kamera-Display-Systeme. Diese sollen die Sicht auf den rückwärtigen Verkehr verbessern und die Verkehrssicherheit steigern, haben aber auch ein paar Nachteile.


Beim Audi e-tron sind sie optional zu haben, der Kleinwagen Honda e hat sie sogar serienmäßig, anstelle des Innenspiegels sind sie auch bei Jaguar gegen Aufpreis zu haben: Die Rede ist von digitalen Rückspiegeln. Wobei der Begriff in die Irre führt, da die sogenannten digitalen Kamera-Display-Systeme überhaupt keine Spiegel im herkömmlichen Sinne sind.

Es handelt sich vielmehr um eine Kombination aus an der Karosserie angebrachten und nach hinten gerichteten Kameras sowie im Innenraum des Autos platzierten Monitoren. Als Ersatz der Außenspiegel erfassen die Kameras den seitlichen und hinteren Bereich neben dem Fahrzeug. Die Bilder sieht der Autofahrer in Echtzeit auf Displays im Innenraum, die etwa im vorderen Bereich der Fronttüren (Audi e-tron) oder am äußeren Rand des Armaturenbretts (Honda e) platziert sind. Als Ersatz für den im Innenraum angebrachten gängigen Innenspiegel blickt etwa bei Jaguar oder Ford eine Kamera in der Dachantenne oder an der Kofferraumklappe auf den weiter entfernten Verkehr im Heckbereich des Fahrzeugs.

Technischer Vorteil der Kamera: Sie kann im Gegensatz zu einem Rückspiegel einen größeren Teil des Fahrzeugumfelds erfassen und dadurch tote Winkel reduzieren. Verglichen mit herkömmlichen Außenspiegeln stehen die Kameras zudem weniger großflächig im Wind, was dem Kraftstoffverbrauch etwas zugutekommen soll. Bei dem von uns gefahrenen Testwagen, einem Audi e-tron, fallen die sieben Zoll großen Monitore (150 x 94 mm) im Innenraum kleiner als die üblichen Außenspiegel (180 x 125 mm) aus. Die Monitore verfügen über eine automatische Helligkeitsregelung je nach Sonneneinstrahlung und Dunkelheit. Zudem gibt es eine Annäherungssensorik. Bewegt der Fahrer den Finger auf die Oberfläche des Touchdisplays zu, erscheinen Symbole, mit denen er den Bildausschnitt per Fingertipp verschieben kann. Per Umschaltfunktion lässt sich das Display auf der Beifahrerseite auch von der Fahrerseite aus einstellen.

 

Beim Audi e-tron sitzt die Außenkamera auf der Höhe, wo normalerweise der Außenspiegel montiert ist. Das Kamerabild ist auf kleinen Monitoren in den Fronttüren erkennbar. Foto: Thomas Schreiner
Verglichen mit herkömmlichen Außenspiegeln stehen die Kameras weniger großflächig im Wind, was dem Kraftstoffverbrauch etwas zugutekommen soll. Foto: Wolfgang Sievernich

Bild stimmt sich auf die Fahrsituation ab

Das Bild passt sich auf den kontraststarken OLED-Displays automatisch an drei Fahrsituationen an: Autobahn, Abbiegen und Parken. Auf der Autobahn verkleinert sich das Sichtfeld, was laut Audi den Vorteil bieten soll, dass Geschwindigkeiten bei schneller Fahrt besser abgeschätzt werden können. Nachfolgende Fahrzeuge erscheinen größer. Im Test bekamen wir im Verkehr davon auf den Mini-Monitoren aber nur wenig mit. Setzt der Fahrer den Blinker, um abzubiegen oder den Spurwechsel einzuleiten, erweitert sich der Bildausschnitt zur Außenseite und hilft den toten Winkel zu verringern. Beim Rangieren und Parken verändert sich das Sichtfeld auf dem Display automatisch nach unten, was Bordsteine oder Parkmarkierungen aus Autofahrersicht leichter erkennbar macht.

Die digitale Technik gibt es auch anstelle des Innenspiegels. Beim Jaguar XE sitzt etwa eine Kamera in der Dachantenne und filmt permanent den nachfolgenden Verkehr. Die in den Innenraum in Echtzeit übertragenen Bilder sind klar und kontrastscharf auf einem an der Frontscheibe angebrachten Kombi-Display, bestehend aus herkömmlichem Spiegel und umschaltbarem Display zu sehen (siehe Bild unten). Der Vorteil am Display: Das Sichtfeld stören weder die Köpfe der Mitfahrer, noch Gepäck oder Kopfstützen. Für Wohnmobile praktisch: Dort ist aufgrund des Aufbaus häufig gar kein Innenspiegel vorhanden. Der Zulieferer Gentex bietet dafür ein Kamera-Display-System zur Nachrüstung an, mit dem sich wie beim Pkw der rückwärtige Verkehr während der Fahrt im Auge behalten lässt.

 

Der Automobilhersteller Jaguar bietet ein umschaltbares Innenraumdisplay an, das auch als herkömmlicher Innenspiegel zu nutzen ist. Foto: Wolfgang Sievernich
Der Kleinwagen Honda e verfügt ausschließlich über ein Kamera-Display-System. Herkömmliche Außenspiegel sind nicht erhältlich. Foto: Thomas Schreiner

Anpassung der Sehschärfe problematisch

Hat der herkömmliche Spiegel also bald ausgedient? Dieser Meinung kann sich Ergonomie-Experte Rainer Grünen nicht anschließen. „Beim Blick in den Spiegel muss das Auge keine Akkomodationsleistung (Anpassung der Sehschärfe, Anm. d. Red.) vollbringen, da der Blick durch die Frontscheibe auf eine Distanz von 50 Meter vor dem Fahrzeug,  beim Blick in den Spiegel auf 50 Meter hinter dem Fahrzeug gelenkt wird. Beim Blick auf das Display muss der Mensch aber von 50 Meter vor dem Fahrzeug auf unter einen Meter vor dem Auge umschalten. Diese sogenannte Nahakkomodation unterschreitet in der Regel eine Armlänge. Ab einem Alter von ungefähr 45 Jahren tut sich der Mensch mit der Anpassung der Sehschärfe auf diese kurze Distanz aber extrem schwer“, sagt Grünen. Die Folge: Ein schneller Blick in das Display zur Überprüfung einer Verkehrssituation sei nur schwer möglich, da das Auge zum Scharfstellen auf die Displayebene zu viel Zeit benötige und das Auge damit auf Dauer anstrenge.

Zudem widerspricht Grünen den Herstelleraussagen, dass sich Entfernungen mit dem Display abschätzen ließen. „Beim Blick in den Spiegel erkennt der Mensch mit beiden Augen Form und Kontur eines Objektes, Texte wie von Nummernschildern, die Form im Raum sowie Distanz und Geschwindigkeit. Bewegt sich das Auto etwa von einem weg, zu einem hin oder hat es die gleiche Geschwindigkeit, wie man selbst“, erklärt Grünen. Mit dem zweidimensionalen Bild des Displays ließen sich Geschwindigkeit und Entfernung nachfolgender Fahrzeuge aber nur schwer abschätzen. „Eine räumliche Vorstellung ergibt sich nur durch die Betrachtung eines Objektes mit beiden Augen. Dieser Vorteil des dreidimensionalen Sehens sollte im Straßenverkehr unbedingt genutzt werden“, rät Grünen.

Weiterer Nachteil: Fällt beim Kamera-Display-System mal der Strom aus, ist die Fahrt auch meist zu Ende.

 

Titelfoto: Thomas Schreiner


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