13.07.2021 Jessica Blank

Konfliktsituationen mit Virtual Reality erleben

VR-Brille auf – und schon ist man in einer anderen Welt. VR, das steht für ­Virtual Reality, also virtuelle Realität. Mit dieser Technik lassen sich nicht nur ­Urlaubserlebnisse projizieren. Das Projekt #Augenblickwinkel360 der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) zeigt, dass VR sich auch sehr gut für die ­Verkehrssicherheitsarbeit eignet.


Ein Radler fährt mit hoher Geschwindigkeit auf einem Radweg. Perspektivenwechsel. Ein Autofahrer reißt seine Tür zum Radweg hin auf. Dieser Augenblick könnte alles verändern. Tut er aber nicht. Es kommt nicht zum Unfall. Denn das hier ist nicht echt, es ist virtuell – und doch so real. Die Szene stammt aus einem der 13 Videos des Projekts #Augenblickwinkel360 der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt). In den kurzen Filmen treffen meist Radfahrer und motorisierter Verkehr aufeinander: Dooring, toter Winkel, Abbiegen, Überholen – typische, alltägliche Konflikt­situationen. In diesen Virtual-Reality-Videos kann man sie gefahrlos und aus verschiedenen Blickwinkeln erleben, um daraus für den Extremfall zu lernen.

„Beim Gebrauch von VR wird davon ausgegangen, dass Nutzende in der Ego-Perspektive sensomotorische Erfahrungen machen, die auch den realen Erlebnissen stark ähneln. Das heißt, man hat das Gefühl, tatsächlich an diesem Ort zu sein. Das nennt sich Immersion“, erklärt Kristin Nickel, Bildungs- und Erziehungswissenschaftlerin bei der BASt. So würden Denkprozesse ausgelöst, die auch in der tatsächlichen Situation vorkommen würden. „Wir haben nicht nur eine kognitive Aktivierung in dem Moment, sondern wir haben auch eine affektive Ebene. Wir fühlen das, was wir real fühlen würden, das ist sehr emotionslastig“, sagt Nickel.

Positive Resonanz

Das zeigt sich an den Reaktionen derer, die die VR-Videos bereits gesehen haben. Kristin Nickel war mit ihrem Team in Schulen und hat sehr positive Resonanz bekommen. Viele Schüler hätten einen „Wow-Effekt“ gehabt und starke Emotionen gezeigt. „Das Gefühl, in einer anderen Welt zu sein, kann man sich nicht vorstellen, bis man es erlebt hat“, meint die Wissenschaftlerin. Generell würde mit Virtual Reality das situierte, konstruktivistische Lernen im Perspektivenwechsel ermöglicht. So entstehen Trainingsoptionen, in denen man gefährliche Situationen immer wieder erleben und üben kann. „Der Einsatz von VR ist dann besonders sinnvoll, wenn Erfahrungen gemacht werden sollen, die im echten Leben zu teuer, zu aufwendig, zu gefährlich oder zu selten sind“, erklärt Nickel.

Von daher eignet sich diese Technik für die Verkehrssicherheitsarbeit sehr gut. Kabellose VR-Brillen kann man überall mit hinnehmen. Und es gibt für kleines Geld sogar VR-Brillen aus Karton, sogenannte Cardboards (ab 80 Cent), mit denen man solche Anwendungen mit Hilfe eines Smartphones und der Youtube-App nutzen kann. Ohne Brille können Interessierte die Videos im Webbrowser ansehen und die Perspektive mit dem Cursor steuern. So haben Privatpersonen, aber auch Fahrschulen, Verbände oder Verkehrssicherheitsberater der Polizei einen leichten Zugang zu der neuen Möglichkeit. Allerdings empfiehlt Nickel aufgrund der realgetreuen Erlebnisse eine Gruppendiskussion im Anschluss, um sich auszutauschen.

Starke Emotionen

Angesprochen werden sollen mit den VR-Anwendungen von #Augenblickwinkel360 alle, die am Straßenverkehr teilnehmen – mit der Ausnahme von Kindern unter 13 Jahren. Das hat mehrere Gründe. Zum einen empfehlen Hersteller von VR-Brillen die Nutzung erst ab 13 Jahren, da sich das Sehorgan bei jüngeren Kindern noch verändert. Außerdem sei kaum etwas über die Langzeitwirkung von VR und die Auswirkung auf die physische und psychische Entwicklung von Kindern bekannt, sagt Nickel. „Man merkt schnell, dass diese hohe Immersion, also dass man sich tatsächlich vor Ort fühlt, auch Gefahren birgt – ganz speziell je mehr Sinne angesprochen werden.“ Das Projektteam wird oft gefragt, warum es in den Videos nicht zum Unfall kommt, möchten doch einige Nutzer dieses intensive Erlebnis haben. „Wir sehen aufgrund der zuvor genannten Gründe davon ab. Die Gefahr, eine traumatische Erfahrung zu machen, schätzen wir insbesondere bei einem fiktiven Verkehrsunfall als hoch ein“, erklärt Nickel.

Ein weiteres Problem kann die sogenannte Motion Sickness sein, ein Phänomen, das manche vom Lesen während einer Autofahrt kennen. „Das bedeutet, dass unser Körper sich in der virtuellen Welt bewegt, wir es aber in echt nicht tun. Unser Körper schlägt dann Alarm, weil er widersprüchliche Sinnesreize wahrnimmt und denkt, er halluziniere“, erläutert Nickel. Die Folgen können Unwohlsein, Schwindel bis hin zu Erbrechen sein. Aus diesem Grund sind die VR-Videos recht kurz gehalten, nicht länger als zwei Minuten, und sie enthalten nur konstante Vorwärtsbewegungen sowie statische Elemente als visuelle Fixpunkte. Szenen mit Fußgängern zu drehen, sei aufgrund der Auf- und-ab-Bewegungen beim Gehen extrem erschwert, meint Nickel.

Dennoch plant das Projektteam weitere Videos mit Blick auf das Fußgängerverhalten. Auch das Thema Ablenkung soll kommen. Im VR-Labor der BASt stehen viel Platz und sämtliche Brillenmodelle zur Verfügung, um solche Anwendungen zu testen. Denn die fortschrittliche Technik hat ihre Grenzen. „In unserem Fall merken wir, dass Aspekte wie Körperwahrnehmung und das Einschätzen von Geschwindigkeit noch nicht am Ende der Entwicklung stehen“, erzählt die Wissenschaftlerin und hofft auf Erkenntnisse auch von Kollegen in den nächsten Jahren.

12 der 13 Videos beschäftigen sich mit dem Konfliktpotenzial zwischen Pkw- oder Lkw-Fahrern und Radfahrern, denn Situationen wie Abbiegen oder Überholen benötigen wechselseitiges Verständnis und das korrekte Umsetzen von Verkehrsregeln. „Die Virtual-Reality-Anwendung #Augenblickwinkel360 unterstützt alle Interessierten dabei, den Verkehr aus den Augen des anderen Verkehrsteilnehmenden zu betrachten und sensibilisiert für gegenseitige Rücksichtnah­me“, erklärt Nickel. Das soll auch Video Nummer 13 bewirken: Darin geht es um das Thema Gaffen. Hier kann ein Perspektivwechsel nicht schaden, um manche Augen zu öffnen.

www.augenblickwinkel-360.de

www.youtube.com/BASt-Videos

Titelfoto: stock.adobe.com/luna