12.11.2024 Jessica Blank

Deutsche Verkehrswacht feiert 100. Geburtstag

In 100 Jahren hat sich auf den Straßen viel verändert, die Mobilität ist eine andere. Und doch ist es heute genauso wichtig wie damals, die Menschen über Regeln aufzuklären und junge Verkehrsteilnehmer an die Hand zu nehmen und zu schulen. Verkehrssicherheits­arbeit ist die Kernkompetenz der Deutschen Verkehrswacht – und das seit 1924. Ein Rückblick mit Ausblick.


Ochsenkarren treffen auf Pferdefuhrwerke, Fahrräder, Motorräder und Fußgänger – und dazwischen kursieren die ersten Automobile. Ohne Blinker, ABS und Servolenkung. Das Verkehrsaufkommen in der Zeit der Weimarer Republik wächst vor allem in den Städten stetig. Durch technologische Entwicklungen und die ersten demokratischen Strömungen erlebt das Deutsche Reich in den 1920er-Jahren einen enormen Aufschwung. Immer mehr Menschen wollen mobil sein. „Das Auto war der Gamechanger. Und das hat gerade im Privaten noch einmal einen ganz anderen, im wahrsten Sinne des Wortes, Drive reingebracht“, erzählt Heiner Sothmann, Pressesprecher der Deutschen Verkehrswacht (DVW). 

Doch die Rahmenbedingungen auf der Straße waren nicht für diese Verkehrsleistung geschaffen und auch die Menschen nicht darauf gefasst. „Es gab kein mobiles Bewusstsein. Also dass der Mensch sich viel stärker als Verkehrsteilnehmer wahrnimmt, mit allem was dazugehört, nämlich auch einer gewissen Verantwortung, die er dann trägt. Das gab es damals so nicht“, berichtet Sothmann. Es habe keine richtige Fahrausbildung gegeben, die mit der heutigen vergleichbar wäre. Der Potsdamer Platz war einer der verkehrsreichsten Orte Europas. Anfang der 1920er-Jahre gab es in Berlin etwa 12000 Kraftfahrzeuge, 1924 schon 30000 und 1927 dann 60000. „Aber es wurde nicht darauf eingegangen. Und das hatte dann natürlich seine Folgen“, sagt Sothmann. „Über 1300 Tote in der Weimarer Republik war verglichen mit heute, mit Millionen von Fahrzeugen, ein irres Unfallrisiko.“ Mit dem Ampelturm, der 1924 auf dem Potsdamer Platz aufgestellt wurde, startete immerhin eine erste Gegenmaßnahme.

Verkehrsregeln mussten zu den Menschen gebracht werden

So entstanden einzelne Vereine auf Ortsebene, die Autowachten. Sie machten es sich zur Aufgabe, Autofahrer selbst zu maßregeln. Schnell war klar, dass eine Organisation benötigt wurde, die für mehr Verkehrssicherheit sorgte. „Die meisten dieser Unfälle hätten verhindert werden können. Das ist heute nicht anders. 95 Prozent der Unfälle sind durch individuelles Fehlverhalten verursacht“, sagt Sothmann. So wurde 1924 die Deutsche Verkehrswacht als Spitzenverband gegründet, in dem sich 14 Mobilitätsverbände zusammenschlossen. Ziel war es, den Verkehr sicherer zu machen und mit dem mobilen Menschen ins Gespräch zu kommen. Aufklärung zu Verkehrs- und Verhaltensregeln stand ganz oben auf der Agenda. Durch niedrigschwellige Angebote sollten die Menschen informiert und sensibilisiert werden. Da sei es um Schlagworte gegangen, die man heute noch kenne: „Vorsicht, Rücksicht, Aufmerksamkeit“, erzählt Sothmann. Er berichtet auch, dass Ablenkung damals schon ein Riesenthema war. Statt mit dem Handy fuhren die Leute Zeitung lesend Fahrrad. Zudem war Alkohol am Steuer ein großes Problem. Bald begann die Verkehrswacht mit der Verkehrserziehung bei Kindern. Zwar waren diese weniger mit Fahrrädern, aber mit Rollern und Dreirädern unterwegs. Auf Schulhöfen und Exerzierplätzen wurden kleine Übungsparcours aufgebaut, um die Kinder und Jugendlichen für den Straßenverkehr und Mobilität zu sensibilisieren. Aber auch um den Eltern etwas mitzugeben, damit diese die Verkehrserziehung zu Hause vorantreiben konnten. Zu dieser Zeit engagierten sich viele Ehrenamtliche in Ortsverkehrswachten, um nahe an den Menschen zu sein. 

Die Verkehrswacht war und ist noch immer überparteilich. Und das machte ihre Arbeit in der Zeit des Nationalsozialismus schwer. „Es ging ja um den Menschen, nicht den mobilen Deutschen, oder das mobile deutsche Kind, sondern es war schon immer der mobile Mensch in all seinen Facetten“, sagt Sothmann. Das sei auch der Zeitgeist der Weimarer Republik gewesen, in dem sich die Verkehrssicherheitsarbeit der Verkehrswacht wunderbar zurechtgefunden habe. „Das passte den Nazis nicht. Die Einflussnahme funktionierte nicht, weil die Propaganda der Nationalsozialisten eben nicht vernunftbasiert war. Und weil der Straßenverkehr nicht so empfänglich ist für politische Propaganda und Ideologie.“ Folglich wurde der Verkehrswacht 1936 die Eigenständigkeit entzogen, gewählte Funktionäre wurden abgesetzt und neue Vorsitzende eingesetzt. Auch der Name änderte sich in Reichsverkehrswacht. Nicht mal ein Jahr später wurde sie einfach aufgelöst, das Schicksal ereilte danach die Ortsverkehrswachten, die nun Bezirksverkehrswachten hießen.

Schnelle Auferstehung aus dem Dornröschenschlaf

Erstaunlich war, wie schnell die Verkehrswachten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im geteilten Deutschland wiederauferstanden. „Man hatte den Eindruck, als ob die Verkehrswächterinnen und -wächter in so einer Art Dornröschenschlaf waren“, erzählt der DVW-Pressesprecher. Schon 1948 formierten sich die ersten Ortsvereine wieder. Der Wunsch nach Mobilität und Bildung war stärker denn je. Und so wurden in den 1950er-Jahren die Grundsteine für viele Dinge gelegt, die heute noch Bestand haben. Aus Ortsvereinen heraus wurden Landesverkehrswachten gegründet, Ende 1950 die Bundesverkehrswacht. Die ersten Jugendverkehrsschulen etablierten sich, Schülerlotsen nahmen ihre Arbeit auf. Ende 1953 waren schon über 8000 Schülerlotsen in der BRD im Einsatz. Die Erstausgabe des Lichttests fand statt, Filmwagen und mobile Sehtests waren unterwegs. „In den 1950er-Jahren hat die Verkehrswacht stark für den verpflichtenden Einbau des Sicherheitsgurts lobbyiert“, erzählt Sothmann. Erst 20 Jahre später kam dann die Anschnallpflicht. 
 

Schülerlotsen nahmen in den 1950er-Jahren ihre Arbeit auf und sind bis heute ein Aushängeschild der DVW. Foto: Deutsche Verkehrswacht

In den 1960er-Jahren trat auch der ARCD, damals noch als KVDB, in die Verkehrswacht ein. Noch heute ist die DVW einer der wichtigsten Partner des ARCD in Sachen Verkehrssicherheit. Auch bei Clubmitgliedern beliebt war die Fernsehsendung „Der siebte Sinn“, die produziert von der Verkehrswacht ab 1966 auf dem besten Sendeplatz ausgestrahlt wurde. Dennoch gab es Anfang der 1970er-Jahre einen traurigen Höhepunkt: Das Verkehrsaufkommen wuchs stetig, ebenso die Zahl der Verkehrsunfälle und Verkehrstoten bis zum erschreckenden Rekord von 21000 Getöteten, darunter viele Kinder. Zeitgleich zählte die Deutsche Verkehrswacht 100000 Ehrenamtliche in der BRD. „Immer mehr Leute hatten ein Auto, wurden vielleicht aber auch unvorsichtiger. Es gab keine Anschnallpflicht, sie haben getrunken und sind gefahren. Das war völlig normal“, erzählt Sothmann. 
 

Intensivierung der Verkehrssicherheitsarbeit

In den folgenden Jahren wurde der Kinderverkehrsclub gegründet, der mit seinem Maskottchen Hörni Pummelzahn ein voller Erfolg war. Zusammen mit der Björn-Steiger-Stiftung erschuf die DVW den Verkehrssicherheitspreis, den „Unfallpräventions-Oscar“. Neben der Verkehrsaufklärung und -erziehung kam das Fahrsicherheitstraining dazu. Die Radfahrausbildung an Schulen wurde verpflichtend. „In den 70er-Jahren wurde an sämtlichen Schrauben noch einmal ordentlich gedreht. Der Wuchs nach oben hin war abgeschlossen, es wurde nur noch optimiert“, sagt Sothmann. In den 80ern kamen Programme für junge Fahrer hinzu und nach der Wiedervereinigung expandierte die DVW ganz schnell in die neuen Bundesländer. 
 

Die Radfahrausbildung in der Schule ist eines der wichtigsten Projekte der Verkehrswacht. Foto: Deutsche Verkehrswacht
Emil Eichhörnchen testet, welche Schwierigkeiten Menschen mit Mobilitätseinschränkungen im Alltag haben. Foto: Deutsche Verkehrswacht

„Und dann sind wir nur noch moderner geworden.“ Heute gibt es digitale Medien, E-Learning-Plattformen, Kommunikation auf allen Kanälen… „Wir machen Trainings mit E-Bikes, E-Scootern, Autos, Motorrädern, Lkw. Wir trainieren die Menschen, wir sind in der Verkehrserziehung ganz aktiv. Wir machen immer noch Lichttests und Sehtests. Ganz grundsätzlich hat sich nichts verändert“, meint Sothmann. Zwar gingen die Unfallzahlen zurück, was auch der Technik zu verdanken sei. Doch die Leute seien immer noch unvernünftig, unvorsichtig, unaufmerksam. „Der mobile Mensch war 1924 der gleiche fehlbare Mensch, wie er es heute noch ist. Ihm muss man Sicherheit erst beibringen. Aber wir können ihm Wissen und Fähigkeiten vermitteln, ihn trainieren und beraten. Das wird notwendig sein, solange er aktiv unterwegs ist und es kein Autonomes Fahren gibt. Und solange wird die Verkehrswacht ihre Arbeit machen.“                           

Titelfoto: Deutsche Verkehrswacht