18.12.2020 Jessica Blank

Psychologische Versorgung von Unfallopfern

Ein Verkehrsunfall kann für die Beteiligten nicht nur schwere körperliche Folgen haben. Auch die Psyche ist nach so einem Ereignis oft stark beeinträchtigt. Doch Hilfe zu finden, ist in diesem Fall gar nicht so leicht, zeigt eine Studie der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt). Dabei ist schnelle Unterstützung besonders wichtig.


Wenn das Krisen-Interventions-Team (KIT) München zu einem Unfallort gerufen wird, ist etwas Schlimmes passiert. Etwas, das sich in den Köpfen aller Beteiligten festsetzt. Menschen sind sehr schwer verletzt oder gar getötet worden. Das KIT kümmert sich um diejenigen, die direkt damit konfrontiert sind: Ersthelfer, Unfallverursacher, Angehörige, Zeugen. „Aus psychologischer Sicht ist es sehr wichtig, dass Betroffene schnell in die Wahrnehmung kommen. Und zwar die Betroffenen, die medizinisch nicht behandelt werden müssen“, erklärt Dr. Andreas Müller-Cyran, Fachlicher Leiter des KIT München, das dem Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) angehört. Er ist selbst Psychologe und Notfallseelsorger und weiß, wie wichtig es ist, „dass Menschen, die in so einer ­Situation aus ihrer Realität herauskatapultiert werden, bald Ansprechpartner haben, die an ihren Bedürfnissen anknüpfen“. Nicht immer ist das möglich, da diese Menschen, Ersthelfer oder Zeugen, oft das fortsetzen, wobei sie unterbrochen wurden: weitergehen oder -fahren. Und erst später merken sie, dass das Ereignis sie einholt.

Nicht nur besonders schwere Verkehrsunfälle können psychische Folgen bei den Beteiligten hervorrufen. In jedem Fall ist die entstandene Hilf­losigkeit der Ursprung aller anschließenden Probleme. „Wenn man sich in eine gefährliche Situation begibt, und das ist ja das Bewegen im Straßen­verkehr, muss man die Überzeugung haben, dass alles gut geht“, sagt Prof. Dr. Wilfried Echterhoff, Gründer des Instituts für psychologische Unfallnachsorge (IPU) in Köln. In der Psychologie heißt das „Illusion von Kontrolle“. Wenn dann ein Unfall innerhalb weniger Sekunden geschieht, wird diese Illusion zerstört und man gelangt in die Hilflosigkeit. „Es muss nicht unbedingt die Schrecklichkeit des Unfalls sein. Dass man durch diesen Unfall in Hilflosigkeit gerät, das ist, was ein Mensch nicht ertragen kann“, erklärt der Psychologe, der auch Vorsitzender der Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland (VOD) ist. Dadurch würden die Betroffenen erst einmal handlungsunfähig, später könnten Reaktanz, also Aggressivität und Trotz, Albträume, Konzentrationsschwierigkeiten und Ängste folgen. „Die Ängste führen auch dazu, dass man bestimmte Dinge vermeidet. Zum Beispiel das Autofahren.“

Schnelle Hilfe

Laut einer Studie der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) aus dem Jahr 2014 ­leidet jeder vierte Schwer­verletzte nach einem Unfall an psychischen Beschwerden wie Angst, Depression oder Posttraumatischer Belastungsstörung. Dann, aber auch wenn jemand nicht im Krankenhaus behandelt wurde, ist schnelle Hilfe besonders wichtig. „Wenn man länger auf eine Behandlung wartet, kann sich die Krankheit festfressen oder auch verändern. Gerade Ängste breiten sich aus“, verdeutlicht Prof. Echterhoff. So könne die Angst, die ursprünglich mit dem Autofahren zusammenhing, dazu führen, dass man nicht mehr Aufzug fahren kann oder Angst in der Gegenwart von Menschen hat.

Jedoch stellt genau diese schnelle Hilfe in Deutschland ein Problem dar, wie eine neue BASt-Studie aus dem Jahr 2019 zeigt, bei der bundesweit Institutionen recherchiert und Experten interviewt wurden. „Es gibt kaum Einrichtungen, die auf Straßenverkehrsunfälle spezialisiert sind. Bei den anderen ist die Versorgungslandschaft sehr unübersichtlich“, berichtet Projektleiterin Dr. Kerstin Auerbach. Auch die Gespräche mit den Experten hätten bestätigt, dass es für Laien oft sehr schwer und langwierig sei, eine geeignete Institution zu finden. „Das stellt gerade in der Situation, wo es jemandem schlecht geht, eine große ­Herausforderung dar“, sagt Dr. Auerbach. Von Wartezeiten bis zu einem halben oder ganzen Jahr ist in ihrem Bericht die Rede. Demnach gebe es auch große Unterschiede im Stadt-Land-Vergleich. Die geringe Therapeutendichte auf dem Land und die damit verbundenen langen Fahrtstrecken stellen für Menschen zum Beispiel mit Fahrphobien ein riesiges Hindernis dar.

Internetportal soll unterstützen

Um den Suchprozess zu erleichtern, zu informieren und Aufklärungsarbeit zu leisten, hat die BASt gemeinsam mit dem Deutschen Verkehrs­sicherheitsrat (DVR) und dem VOD das Internetportal „Hilfefinder“ ins Leben gerufen. Unter www.hilfefinder.de können  Betroffene einen sogenannten Trauma-Check durchführen. „Da kann man sich selber schon mal einordnen, wo man steht und ob man gefährdet ist und Hilfe braucht“, erklärt Dr. Auerbach. Informationen gibt es auch zu Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS), Fahrphobien, anderen Angststörungen und depressiven Reaktionen. Über den „Schnelle-Hilfe-Button“ können mithilfe einer Suchmaschine Institutionen in der eigenen Region gefunden werden, die kurzfristig Unterstützung anbieten. Wer direkt einen Therapeuten sucht, wird auf die Suchmaschine der Bundestherapeutenkammer weitergeleitet. In der Rubrik Wissen erhalten Betroffene und ­Interessierte (z. B. professionelle Helfer) vertiefende Informationen zu psychischen Unfallfolgen und auch das wichtige Thema Recht hat seinen Platz. „Unsere Aufgabe ist es, mehr Verständnis und Akzeptanz insgesamt zu schaffen durch Aufklärung“, sagt Dr. Auerbach. Wichtig sei, dass auf allen Ebenen das Bewusstsein und die Kenntnis über psychische Unfallfolgen gestärkt werde. Sowohl bei professionellen Helfern als auch bei Betroffenen. „Wenn es jemandem schlecht geht, ist das keine Scham, keine Schande. Das kommt häufig vor“, macht die Psychologin deutlich.

Auch Angehörige können den Hilfefinder nutzen, wenn sich ein Mensch nach einem Unfallereignis ­verändert. „Wenn eine Person sich anders verhält, könnte das immer ein Zeichen sein, dass sie den Unfall nicht gut ver­arbeitet, und Gefahr läuft, tatsächlich ernsthaft psychisch zu erkranken“, erläutert Dr. Auerbach. Klar sei natürlich auch, dass es einiges an Mut brauche, um einem Familienmitglied zu sagen, dass man sich Sorgen macht. Auch da kann der Trauma-Check des Hilfe­finders unterstützen, um die Situation einzuordnen.

Passive Unterstützung

Nur selbst „therapeutische“ Maßnahmen ergreifen, das sollten Angehörige lieber nicht, meint Prof. Echterhoff. „Das ist ein Gerücht, dass man darüber reden muss. Das wiederholt den Vorfall und das Erleben. Es ist keine Entlastung, sondern eine Wiederholung der Schrecklichkeit. Ein innerer Abbau wird verhindert.“ Der Psychologe empfiehlt nahestehenden Personen eine eher passive Haltung, in der sie Hilfe anbieten, aber warten, was von dem Geschädigten selbst kommt. Er weiß aber auch, dass solche Unfallereignisse in Paarbeziehungen besonders kritisch sind, weil Betroffene oft gereizt und aggressiv sind. „Das darf man dann nicht auf die Partnerschaft beziehen, sondern nur auf das Extrem-
erlebnis.“

Unfall rekonstruieren

Ist ein psychologischer Psychotherapeut gefunden, arbeitet dieser gezielt daran, aus der Hilflosigkeit herauszukommen und für emotionale Entlastung zu sorgen. „Der nächste Schritt ist, wenn sich alles ein bisschen beruhigt hat, genau zu verstehen, wie der Unfall richtig passiert ist“, erklärt Prof. Echterhoff. Wer einen Unfall hatte, habe oft nicht die korrekte Wahrnehmung der Situation. „Ich versuche dann, den Ablauf des Unfalls aufzuzeichnen, diese drei, vier Sekunden zu zerlegen wie in einem Slow-Motion-Film, der jedes Teilereignis nochmal beleuchtet.“ Nach Möglichkeit fährt der Psychotherapeut zur Unfallstelle, um den Ablauf zu rekonstruieren. „Dann wird auf einmal klar, was die eigentliche Ursache war. Die Schrecklichkeit ist meistens nicht so nachhaltig wie das Gefühl von Hilflosigkeit.“

Hilflos sind Menschen auch, wenn sie nach einem Unfall alleine gelassen werden. „Bei einem privaten Unfall bräuchte man jemanden, der Briefe schreibt, anruft. Es wäre sehr gut, wenn es da Personen gibt, die das machen können. Diese Arbeit müsste von der gegnerischen Versicherung bezahlt werden“, meint Prof. Echterhoff. Doch gerade die Kostenübernahme und rechtliche Streitigkeiten belasten oft zusätzlich. Unterstützung bietet dabei zum Beispiel der bundesweit tätige Verein Subvenio. Nicht selten sei es der Fall, dass sich psychische Folgen einstellen, wenn Leute in einer Situation, in die sie völlig unverschuldet geraten sind, keinerlei Hilfe bekommen würden, sagt Vereinsgründerin Stefanie Jeske. Subvenio hilft dabei, Kontakte herzustellen, auch für juristische Beratung bei Personenschäden.

Ursache vermeiden

Neben der Unterstützung Geschädigter und der Aufklärungsarbeit ist die Verkehrssicherheitsarbeit ein zentraler Punkt bei Unfallfolgen jeglicher Art. „Der beste Weg ist immer noch, wenn wir Unfälle vermeiden oder deren Folgen minimieren“, sagt Dr. Auerbach. Einer, der die Folgen hautnah miterlebt, ist Dr. Andreas Müller-Cyran. Bei seiner Arbeit beim Krisen-Interventions-Team München und als Notfallseelsorger in der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV). „Ich habe den Eindruck, dass das Risiko im Straßenverkehr nicht im Mittelpunkt steht“, sagt Dr. Müller-Cyran. Neun Tote gebe es täglich auf Deutschlands Straßen zu vermelden. Das seien jeden Tag neun Familien, in denen ein Mensch zu Tode kommt. Neun Familien, in denen jemand – hoffentlich – ohne Vorsatz in den Tod eines anderen Menschen verstrickt sei. „Insgesamt würde ich sagen, dass die Sozialrelevanz im Straßenverkehr in Deutschland sehr wenig wahrgenommen wird“, sagt er und ergänzt: „Verhalten im Straßenverkehr ist kein Privatverhalten, sondern zuerst Sozialverhalten.“ Da gebe es noch Aufklärungsbedarf.

Titelfoto: stock.adobe.com/©Khunatorn 


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