24.02.2022 Simone Eber

Nachhaltig, langlebig, bayerisch – Den Münchner Spirit beim Stadtwandern erleben

Wandern ist umweltfreundlich, pandemiekonform und schafft neue Perspektiven. Kein Wunder, dass mittlerweile nicht nur Naturziele, sondern auch Großstädte Urlaubern entsprechende Angebote machen. Wir haben München von Nord nach Süd durchquert und dabei Persönlichkeiten getroffen, für die Nachhaltigkeit mehr als ein Modewort ist.


Zwei Wanderrouten werden auf der Website von München Tourismus beschrieben: Eine führt von Ost nach West durch die Isarmetropole, eine zweite von Nord nach Süd. Beide Touren, die auch per Fahrrad machbar sind, werden anhand von Texten, Bildern und Karten ausgiebig vorgestellt; wer möchte, kann sich von der Wander-App Komoot dabei begleiten lassen. Angesichts dieser Grundlage war uns klar: Wir wollen die Nord-Süd-Route nicht einfach nachwandern, sondern unterwegs Münchnern begegnen, deren Geschäftsideen zu einem sanften Tourismus passen. Dafür haben wir die Strecke hier und da abgewandelt und uns auf die Stadtteile Schwabing, Maxvorstadt und Haidhausen konzentriert.
Gestartet sind wir aber nach Plan bei der BMW-Welt, um von dort in den Olympiapark weiterzuwandern. Gästeführerin Christiane Haack kennt Münchens nörd­liche grüne Lunge bestens und führt uns zunächst ins Olympische Dorf, wo bei den Sommerspielen 1972 Athleten aus der ganzen Welt untergebracht waren. Heute sind die kleinen Bungalows mit Balkon dort begehrte Studentenwohnungen, die von den Bewohnern oft kreativ bemalt werden.
 

Das Panorama macht Lust ­darauf, in die Stadt einzutauchen. Wir steigen vom Olympiaberg herab, durchqueren eine Schrebergartenanlage und marschieren über die Winzererstraße Richtung Zentrum. Rund um den Josephsplatz, wo die Bezirke Schwabing und Maxvorstadt aneinandergrenzen, lohnt sich für Architekturinteressierte eine Extrarunde: Das Stadtarchiv und die Agnespost aus den 1920er-Jahren, das 1941 während der Zeit des Nationalsozialismus eröffnete Nordbad im neoklassizistischen Stil und der Alte Nordfriedhof gehören zu den interessantesten Adressen in dem zentralen, aber ruhigen Viertel.
 

Gästeführerin Christiane Haack zeigt das weitläufige Gebiet des Olympiaparks auf einer Karte. Foto: Simone Eber

Dunkle Schatten

In krassem Gegensatz zu diesem fröhlichen Ambiente steht der Erinnerungsort für die Opfer des antisemitischen Terroranschlags, die am 5. September 1972 während der Spiele ums Leben kamen. Der 2017 eingeweihte Multimediapavillon ist die jüngste von mehreren Gedenkstätten in der bayerischen Landeshauptstadt, die an diesen schwarzen Tag er­innern, und thematisiert die ­Lebensläufe der Opfer und den Tathergang. Wenn 2022 das 50. Jubiläum der Münchner Sommerspiele begangen wird, wird sich ein Teil des Programms ebenfalls dem Attentat widmen, so etwa eine Ausstellung im Jüdischen Museum.
Doch auch unbeschwerte Aktivitäten wie Radtouren durch den Olympiapark oder Führungen über das spektakuläre Zeltdach des Olympiastadions, vor dem wir jetzt stehen, sind geplant. Bereits 2006, erinnert Christiane Haack, hat der FC Bayern seine Spielstätte in die Allianz-Arena verlegt. Viele fürchteten damals, dass diese Entscheidung den Niedergang des Olympiaparks besiegeln würde, weiß die Gästeführerin. „Doch er ist belebt geblieben, auch dank vieler Veranstaltungen wie etwa dem Tollwood-Festival“, freut sich Haack. Das wundert uns nicht. Schließlich ist der Olympiapark mit seinen Sportstätten nicht nur ein Anlaufpunkt für viele Aktive, sondern auch ein abwechslungsreiches Frischluftareal mit einem See und einer abwechslungsreichen Topografie. „Die Hügel wurden künstlich mit Kriegsschutt aufgehäuft“, erklärt unsere Gästeführerin, als wir den Olympiaberg erklommen haben. Ein komisches Gefühl, auf dem Boden sinnloser Zerstörung die tolle Aussicht zu genießen. Sie reicht von Schloss Nymphenburg im Westen über die Frauenkirche in der Altstadt bis zum Riesenrad am Ostbahnhof.
 

Vom Olympiaberg lässt sich München gut überblicken. Auch die Sicht auf das markante Zeltdach des Stadions ist bestens. Foto: München Tourismus/Frank Stolle

Das Panorama macht Lust ­darauf, in die Stadt einzutauchen. Wir steigen vom Olympiaberg herab, durchqueren eine Schrebergartenanlage und marschieren über die Winzererstraße Richtung Zentrum. Rund um den Josephsplatz, wo die Bezirke Schwabing und Maxvorstadt aneinandergrenzen, lohnt sich für Architekturinteressierte eine Extrarunde: Das Stadtarchiv und die Agnespost aus den 1920er-Jahren, das 1941 während der Zeit des Nationalsozialismus eröffnete Nordbad im neoklassizistischen Stil und der Alte Nordfriedhof gehören zu den interessantesten Adressen in dem zentralen, aber ruhigen Viertel.

Mode als Kulturschock

Hier, in der Görresstraße, liegt auch Noh Nee, das Atelier von Rahmée Wetterich. Vor zwölf Jahren hatten die Modedesignerin und ihre Schwester Marie eine scheinbar extravagante Idee: Sie wollten afrikanische Stoffe und bayerische Schnitte zu einem „Dirndl à l’africaine“ vereinen. Denn obwohl ihre aus Kamerun stammende Familie in der vierten Generation in Deutschland lebt und sie mit einem Bayern verheiratet ist, hat Wetterich eine Frage nie losgelassen: „Wie lassen sich verschiedene Kulturen zusammenbringen?“ Ihre Dirndl aus Waxprint-Stoffen mit groß­flächigen Mustern und leuchtenden Farben sind eine indi­viduelle Antwort darauf.
„Ehrlich gesagt hätten wir gar nicht gedacht, dass wir damit so einen Erfolg haben, denn die bayerische ist schon eine relativ sture Kultur und die ­afrikanische auch“, meint die Designerin verschmitzt.
Bei der Arbeit an den Entwürfen haben sie und ihre Schwester eine interessante Feststellung gemacht: Das angereihte Kleid mit Puffärmeln, das hierzulande Dirndl heißt, findet sich in ursprünglichen Lebensräumen weltweit. Und das führt Rahmée Wetterich auf seinen praktischen Schnitt zurück. „Die Kleider sind so genäht, dass sie jederzeit um zwei ­Größen nach oben oder unten angepasst werden können.“ Damit seien sie ein „Wert­gegenstand“, der über lange Jahre getragen und sogar vererbt werden könne. Rahmée Wetterich freut sich über Kundinnen, die ihre Töchter mit ­einem ihrer Dirndl ausstatten und dafür 840 Euro und mehr investieren. „Das ist ein Kompliment für mich.“
Noch mehr freut sich die tatkräftige Geschäftsfrau aber darüber, dass sie während der Corona-Pandemie ein langgehegtes Ziel voranbringen konnte: in Afrika sozialverträglich zu produzieren. Schon 2012 hat sie einen Verein zur Ausbildung von Näherinnen im Benin gegründet, doch erst im Lockdown konnte sie sich dem Projekt mit voller Kraft widmen. Inzwischen ist die Fertigung im Benin angelaufen, die Beschäftigten erhalten eine angemessene Bezahlung und eine Krankenversicherung. „Afrika kann jetzt Dirndl. Ich könnte explodieren vor Freude!“, jubelt Rahmée Wetterich.
 

Bayerische Schnitte, afrikanische Stoffe: Rahmée Wetterich will über die Mode Kulturen zusammenführen. Foto: Simone Eber
In Nicki Marquardts Atelier dreht sich alles um Kopfbedeckungen. Mit dem Strohbortennähen, hier zu sehen an einer Trachtenhaube, führt die Hutmacherin eine fast ausgestorbene Tradition fort. Foto: Simone Eber

Auf den Hut gekommen

Wir gehen die Winzererstraße noch ein kleines Stück entlang, bevor wir in östliche Richtung in die Schellingstraße einbiegen und ihr bis zur Türkenstraße folgen. Mitten im Universitätsviertel hat eine weitere Powerfrau ihr Geschäft: Nicki Marquardt. „Wir fertigen Kopfbedeckungen für jeden Anlass“, erklärt die Hutmacherin, „und wir machen alles per Hand.“ Die Werkstatt befindet sich direkt hinter der Boutique – kürzere Produktionswege gibt es tatsächlich nicht.
Ein Standbein des Betriebs, der 2021 25-jähriges Bestehen feierte, sind maßgefertigte Hüte für festliche Anlässe, etwa Hochzeiten des Hochadels. Genauso stolz ist Nicki Marquardt aber auf ihre Mützen und Hüte für den Alltag, die in Schnitt, Farbe und Material auf den Kunden abgestimmt werden. Einen Trend, der sogar prämiert wurde, hat die Designerin mit ihren Reisehüten gesetzt. Sie lassen sich flach zusammenfalten und passen so in jeden Koffer. Zusätzlich ist Marquardt Expertin für das Strohbortennähen, eine Technik, bei der ein langes Flechtband spiralig aneinandergenäht wird. Das filigrane Ergebnis dieser schwierigen Handarbeit ist an verschiedenen Trachtenhauben und Haarreifen im Geschäft zu sehen.
Eine Strickmütze aus italienischer Wolle ist bei der Hut­macherin nicht unter 150 Euro zu haben. „Lieber etwas Zeit­loses, Maßgefertigtes als Fast Fashion“, argumentiert sie und versichert, dass die Produkte jahrzehntelang halten. Ihr Name ist nicht nur in München bekannt. Sie hat Kunden aus aller Welt, beliefert Luxuskaufhäuser und stellt bei der Fashion Week in Paris aus. Marquardts Lebenslauf liest sich wie aus dem Bilderbuch: Nachdem sie auf das selten gewordene Handwerk gestoßen war, schmiss sie ihr Studium, begann eine Hutmacherlehre und erwies sich als so talentiert, dass sie noch während der Ausbildung eine Kollektion beim Münchner Traditionskaufhaus Ludwig Beck platzieren konnte. Der Rest ist Geschichte.

Solide Sohlen

Wir wenden uns jetzt noch einmal nach Norden und laufen auf der geschäftigen Leopoldstraße mitten durch das Herz von Schwabing. Zwischen Giselastraße und Münchner Freiheit bietet sich eine Einkehr an: Im Bapas lassen sich bayerische Spezialitäten wie Weißwürste, Obazda oder Leberkäs originell angerichtet im Miniformat probieren und mit Bieren aus regionalen Biobrauereien kombinieren. Im selben Karree liegt auch unser Hotel, wo wir uns mit Leihfahrrädern ausrüsten. Doch bevor wir die Tour mit den Drahteseln fortsetzen, machen wir Station bei Halfs Schuhe, einem kleinen Laden am Ende der schmalen Feilitzschstraße.
Hier hält Geschäftsgründer Achim Wünsch seit gut 20 Jahren die Tradition der Haferlschuhe aufrecht, die in Oberbayern zur Tracht getragen werden. Mitarbeiter Luca Reinhardt erklärt uns die Besonderheit: „Die Schuhe werden aus einem einzigen großen Lederstück gefertigt und sind auf ­einem sehr spitzen Leisten geformt, wofür es sehr viel handwerkliches Geschick braucht. Dafür arbeiten wir mit Manufakturen in Italien und Spanien zusammen, die das beherrschen.“ Kunden schwören auf die Haferlschuh-Bestseller Max und Martl – doch auch andere Modelle, etwa robuste, wetterfeste Stiefel, kommen gut an. Rund 300 Euro kostet ein Paar Halfs-Schuhe, doch die hält Reinhardt für bestens investiert: „Es sind von Design und Qualität her langlebige Produkte, nicht zu vergleichen mit Sneakers, die nach einem Jahr durchgelatscht sind. Die Kunden können sie immer wieder neu besohlen lassen.“
 

Luca Reinhardt zeigt beliebte Haferlschuhe aus dem Sortiment von Halfs. Foto: Simone Eber
Redakteurin Simone Eber stieg ab dem Englischen Garten aufs Fahrrad um. Hier hatten es ihr die Wasserläufe besonders angetan. Foto: Simone Eber

Vielfältiger Park

Von Halfs ist es nur ein Katzensprung in den Englischen Garten. „Der Münchner geht in der Regel nicht spazieren, er geht nur nach irgendeinem Wirtshause (…). Daher ist der köstlich englische Garten (…) so einsam, so ausgestorben“, schrieb der Autor August Lewald 1835 konsterniert. Das ist heute anders. An schönen Tagen sind die grünen Wiesen zwischen Schwabinger Bach und Eisbach von Menschen bevölkert. Sie kehren in dem riesigen Biergarten am Chinesischen Turm ein, genießen die Aussicht auf die Altstadt vom Monopteros oder schlüpfen in ihren Neoprenanzug, um auf der Surfwelle am Eisbach zu reiten. Gleich ums Eck lädt in einem ehemaligen Klohäuschen der Kiosk Fräulein Grüneis zu vielfältigen Brotzeiten und je drei warmen Tagesgerichten ein.
Wir verlassen an dieser zentralen Stelle den Park, zeigen der Altstadt aber die kalte Schulter und radeln auf der Prinzregentenstraße auf die andere Isarseite, um über die Maximilians­anlagen nach Haidhausen zu gelangen. Als wir am Maximilianeum vorbeifahren, könnte der Kontrast zwischen dem pompösen Bayerischen Landtag und dem sich anschließenden Wiener Platz nicht größer sein. Mit seinen Marktständen, an denen Deftiges wie Fisch- und Bratwurstsemmeln angeboten wird, strahlt er eine kleinstädtische Gemütlichkeit aus. Wie zu Hause sollen sich Gäste seit 2020 auch im Mr. Baker’s bei Dorothea Sigel in der Steinstraße fühlen. In dem familiengeführten Tagescafé ist vom Kuchen über die Tramezzini bis zum Mittagsgericht alles selbst gemacht.

 

Der Wiener Platz lockt mit gemütlichen Cafés und bunten Marktständen zur Einkehr. Foto: Simone Eber
In den Hier Studio Stores gibt es Kleidungsstücke, aber auch viele andere Produkte, die für regionales Design stehen. Foto: privat

Eine letzte Verabredung führt uns in die Innere Wiener Straße, wo Stephanie Kahnau ihr Atelier hat. Die Textildesignerin produziert und verkauft hier Frauenbekleidung der ­besonderen Art: Mit Sieb- oder Ätzdruck, Farbeffekten, Malereien, Handstickereien und vielen weiteren Techniken bearbeitet sie die Oberfläche von Stoffen und macht sie so zum Unikat. „Das Stück Stoff wird ein bisschen wie ein Bild behandelt, das gestaltet wird“, erklärt Kahnau ihre Arbeit. Dabei verwendet sie meist Einheitsgrößen sowie großflächige, minimalistische Schnitte. „So entstehen zeitlose Sachen, die man sehr, sehr lange hat, die keinem Trend folgen.“
Hier Studio Stores heißt Kahnaus Laden, weil sie und die Partner, mit denen sie sich die Räume teilt, für Produkte aus größtenteils regionaler Herstellung stehen. Am Ende unserer Tour können auch wir sagen: Wir waren wirklich hier. Das Stadtwandern und die vielen Begegnungen haben uns München von einer ganz neuen Seite gezeigt.   

 

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Bildergalerie

Fotos: Simone Eber


Titelfoto: Frank Stolle