10.01.2020 Jessica Blank

Kindersitze: Wie Kinder bis vier Jahre sicher im Auto mitfahren

15 Monate? Zwei, drei oder vier Jahre? Die Frage, wie lange Kinder entgegen der Fahrtrichtung im Auto gesichert werden sollten, wird unter Eltern heftig diskutiert. Und selbst Unfallmediziner, Kfz-Ingenieure und Kinder­sitztester sind sich beim Thema Reboarder nicht einig.


Zu groß. Zu schwer. Oder einfach unzufrieden. Egal aus welchem Grund, sobald ein Kind der Babyschale entwachsen ist, beginnt die Suche nach dem nächsten Kindersitz. Und damit die Diskussion. Soll das Kind vorwärts oder rückwärts fahren? Nach der alten, aber noch gültigen Prüfnorm ECE-R 44 darf der Nachwuchs ab neun Kilogramm in Fahrtrichtung sitzen. Die neue i-Size-Norm (ECE-R 129) hingegen richtet sich nicht mehr nach dem Gewicht, sondern nach der Größe des Kindes (s. Grafik unten). Demnach sind diese sogenannten Reboarder ab 75 Zentimeter, manche schon ab Geburt, bis zu einer Größe von 105 Zentimetern geeignet.

Sitze nach i-Size-Norm müssen sicherstellen, dass der kleine Passagier bis 15 Monate rückwärts gerichtet mitfahren kann. Erst danach beginnt die Frage der Fahrtrichtung – sofern sich der Reboarder auch nach vorne drehen lässt. „Das Ausgangsproblem ist, dass oft zu früh von der Babyschale in den nächsten Sitz gewechselt wird“, erklärt Dr. Gerd Müller, Kfz-Ingenieur an der TU Berlin. Reboarder seien eine gute Antwort darauf. Bei Neugeborenen macht der Kopf ein Viertel von Gesamtgröße und -gewicht aus. Zum Vergleich: Der Kopf eines erwachsenen Mannes entspricht sechs Prozent seines Gesamtgewichtes. Selbst bei Kleinkindern ist der Kopf noch zu schwer und zu groß in Relation zum Körper und dem Muskelaufbau an der Halswirbelsäule. Bei einem Unfall ist somit das größte Problem das Abnicken des Kopfes nach vorne. „Das ist eine träge Masse, die da beschleunigt. Das kann zu schweren Verletzungen an der Halswirbelsäule führen“, erklärt Dr. Christopher Spering, der Leiter der Sektion Prävention der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) ist. Die Gurte über dem Brustkorb müssten die gesamte Energie abfangen, sagt der Oberarzt an der Uniklinik in Göttingen. „Da ist es ein großer Unterschied, ob diese flächig über die Rückenlehne abgefangen werden kann“ – wie es beim Reboarder der Fall ist.

Schweden als Vorbild

5078 der verunglückten Kinder im deutschen Straßenverkehr kamen 2018 im Auto zu Schaden. 1223 waren unter vier Jahre alt. Sechs davon starben. In Schweden geht diese Zahl gegen null. Dort ist es üblich, dass Kinder bis vier Jahre rückwärts gerichtet mitfahren. Obwohl es nicht gesetzlich vorgeschrieben ist. Laut der staatlichen schwedischen Behörde Trafikverket ist es bis zu fünfmal wahrscheinlicher, dass Kinder verletzt oder getötet werden, wenn sie vorwärts fahren. Mit dieser Zahl schüren auch Reboarder-Verfechter die Diskussion an, die in manchen Kreisen aber oft ins Unsachliche abdriftet.

„Es ist sehr gut, dass wir in Deutschland die 15 Monate erreicht haben. Aber es ist sinnvoll, das auszuweiten aufgrund der physikalischen und anatomischen Parameter von Kindern“, meint Dr. Spering. Neben dem schweren Kopf ist auch der Brustbereich nicht so stabil und das Abdomen wird durch die schwächere Bauchmuskulatur weniger geschützt. „Man kennt das von uns in einem normalen Sitz: Wenn man in den Gurtstraffer eingeklemmt wird, sind die Thoraxverletzungen für Erwachsene schon schwer, für Kinder noch schlimmer“, erklärt der Unfallchirurg. Die Übertragung der Energie auf die inneren Organe sei viel höher, weil der Thorax weicher sei. „Da schützt  die Sitzschale mehr, wenn die Kinder da reingedrückt werden.“

Rückwärts gerichtetes Fahren hat aber nicht nur Vorteile. So ist die Interaktion mit dem Kind deutlich schwieriger. „Die Ablenkungsgefahr sollte man nicht unterschätzen“, sagt Dr. Müller. Zudem besteht der Verdacht, dass Kinder, die rückwärts fahren, häufiger unter Reiseübelkeit leiden. Das größte Problem der großen Reboarder sieht der Kfz-Ingenieur allerdings im benötigten Platz. Wenn sich diese nicht korrekt im Auto einbauen ließen und auch der Beifahrer keine Beinfreiheit mehr habe, sei das auch kein Sicherheitsgewinn.

Häufige Fehler

Zum Thema fehlerhafte Sicherung (Misuse) von Kindersitzen und Kindern im Auto hat Dr. Gerd Müller im Auftrag der Unfallforschung der Versicherer (UDV) eine Studie durchgeführt. Mit erschreckendem Ergebnis. Zwei Drittel aller Kindersitze werden fehlerhaft verwendet, sodass die Schutzwirkung eingeschränkt oder gar ganz aufgehoben ist. Diese Fehlbenutzungen waren bei allen Kindersitzmodellen zu finden. „Man staunt, was man alles falsch machen kann“, berichtet Dr. Müller. Vertauschte Gurte, lose Gurte, falsche Gurtführung gerade bei Kindersitzen ohne Isofix-Befestigung… „Isofix leistet einen großen Beitrag zur Vermeidung von Mis-use“, erklärt er. Dennoch seien diese Verankerungsmöglichkeiten am Kindersitz, die sich ganz einfach mit den Isofix-Ösen im Auto verbinden lassen,  nicht so weit verbreitet. „Die Leute zeigen keine Bereitschaft, dafür mehr Geld auszugeben“, erklärt Dr. Müller. Dabei sind gegurtete Sitze oft gefährlicher für das Kind, vor allem wenn sie schwer sind. „Wenn ein Kindersitz nicht mit Isofix befestigt ist, müssen die Kinder den Sitz bei einem Unfall mit abbremsen. Der Sitz rutscht auch in die Gurte und das Kind wird eingequetscht“, berichtet Dr. Spering.

Der passende Sitz

Nicht jeder Sitz passt in jedes Auto. Und nicht jeder Sitz zu jedem Kind. „Es ist essenziell, dass man ein Kind in einen Sitz setzt, der dem Kind passt“, sagt der Arzt. Nicht nur deshalb ist eine gute Beratung beim Kauf unverzichtbar (s. Kasten links).  Der Vorteil bei Reboardern, die ab Geburt genutzt werden können, ist, dass auch kleine, zarte Kinder darin gut aufgehoben sind. Verschiedene Polster als Sitzverkleinerer lassen den Nachwuchs bequem und sicher Platz nehmen.  

Stellt sich weiterhin die Frage, bis wann es sinnvoll ist, dass Kinder rückwärts fahren. Doch da sind sich die Experten nicht ganz einig. „Ich bin kein Fan von langem rückwärts Fahren“, gibt Dr. Müller zu. Für ihn seien 15 bis 18 Monate lang genug. „Ich möchte keine genaue Altersangabe machen, weil die Entwicklung unterschiedlich ist.“ Aber wenn Kinder laufen könnten, hätten sie eine gut ausgeprägte Halsmuskulatur, um vorwärts fahren zu können. „Es ist nicht falsch, wenn Kinder länger rückwärts fahren, aber ich sehe da Nachteile“, erklärt Dr. Müller. So gebe es ab zwei Jahren oft ein Akzeptanzproblem, weil der Nachwuchs in die gleiche Richtung schauen möchte wie alle anderen auch. Der Unfallmediziner Dr. Spering sieht das anders: „Ich würde erst ab dem vollendeten dritten Lebensjahr vorwärts fahren lassen.“ Danach gebe es anatomische Limits. Aber bis drei Jahre seien Kinder in solchen Sitzen gut zu positionieren.

Wer sich nicht entscheiden kann, ob vorwärts oder rückwärts, greift am besten zu einem Kindersitz, der sich drehen lässt. So bleiben alle Möglichkeiten offen.               

Tipps für den Kindersitzkauf

●  Nicht zu früh in den nächstgrößeren Kindersitz wechseln.
●  Kaufen Sie Ihren Kindersitz in einem Fachgeschäft mit guter Beratung.
●  Lassen Sie Ihr Kind in möglichst vielen Modellen Probe sitzen.
●  Achten Sie darauf, dass die Gurte beim Kind an der richtigen Stelle anliegen.
●  Kaufen Sie nur einen Sitz, der gut zu ­Ihrem Kind passt und in dem sich das Kind wohl fühlt.
●  Bauen Sie den Kindersitz zur Probe in alle Autos ein, mit ­denen Sie Ihr Kind transportieren möchten.
●  Der Beifahrer sollte noch ge­nügend Bein­freiheit haben, um sicher zu sitzen.

Interview mit Crashtest-Expertin Sarah Vasconi

Wie werden Kindersitze beider Stiftung Warentest grundsätzlich getestet?
Die Stiftung Warentest prüft die Sicherheit in aufwendigen Crashtests. Hier stehen Frontal­- und Seiten­aufprall auf dem ­Programm. Die Testbedingungen sind dabei für alle Kinder­sitze gleich. Bietet ein Kinder­sitz unterschiedliche Befestigungs­arten, zum Beispiel Isofix oder Drei­punkt­gurt, vorwärts oder rück­wärts­ gerichtet, mit oder ohne ­Basis, Rückenlehne mit Ruhepos­ition, dann führen die Tester eine entsprechende Anzahl von Crashtests für alle Varianten durch. Das gilt auch für unterschiedlich große Dummys zum Beispiel bei mitwachsenden Kinder­sitzen. Das ­Test­urteil für den Unfall­schutz berechnet die Stiftung Warentest aus den Crashtest-Ergeb­nissen aller Befestigungs­arten. Lässt sich ein Sitz vorwärts und rück­wärts ­gerichtet montieren, muss er beide Crashtests mit Bravour über­stehen. Fällt er in einer der Monta­gearten durch, bekommt er ein entsprechend schlechtes Qualitäts­urteil. Die ­Prüfungen sind angelehnt an die Verordnungen ECE-R 44 und R 129.
Front­aufprall: Die Testkarosse mit dem Kinder­sitz wird beim Front­aufprall auf 64 km/h beschleunigt. Dies ist eine höhere Geschwindigkeit als in der ECE-R 129 vorgegeben, hierdurch wird eine höhere Unfallschwere ­erreicht. Dann prallt sie auf das Hindernis. Hoch­geschwindig­keits­kameras halten jede Bewegung fest: 1000 Bilder pro Sekunde. Diese Video­sequenzen werden genau ausgewertet, falls es zu schlechten ­Test­ergeb­nissen kommt. Die extreme Zeitlupe lässt keinen Moment während des Aufpralls aus.
Seiten­aufprall: Die Karosserie wird quer auf dem Prüf­schlitten montiert. Aufprall bei etwa 25 Kilo­metern pro Stunde gegen eine fest­stehende Tür. Abweichend von ECE-R 129: Die Tür ist nur mit 20 Milli­meter Styrodur verkleidet und der Aufprall­winkel beträgt 80 statt 90 Grad.

Wie wirken sich verschiedene Unfallszenarien auf ein Kind im Kindersitz aus?
Bei einem Frontaufprall gibt es hohe Verzögerungen bei einem Unfall mit Gegenverkehr. Die Krafteinwirkung in Längsrichtung ist bei einem frontalen Crash hoch. Es kommt dementsprechend zu einer Bewegung des Körpers und Kopfes in diese Richtung. Wird diese Bewegung nicht ausreichend durch das Gurtsystem und den Sitz abgefangen, kann es zu hohen Belastungen des Kopf-Nacken-Bereiches kommen. Die Knautschzonen an den Seiten eines Autos sind gering. Kommt es zu einem seit­lichen Aufprall, können sich deshalb Teile der Karosserie in den Innenraum eindrücken (Intrusion) und zu Verletzungen der Insassen führen.
Ein Heckaufprall ist in der Unfallstatistik weniger relevant als der Front- oder Seitenaufprall. In der Regel entstehen beim Heckaufprall geringere Verzögerungen als beim Frontaufprall und geringere Intrusion als beim Seitenaufprall. Die Unfallschwere ist somit meist geringer als bei den beiden anderen Unfallarten.

Für manche Experten ist rückwärts gerichtetes Fahren bis vier Jahre die einzige Option. Wie sehen Sie das?
Einer der großen Vorteile des rückwärts gerichteten Fahrens ist das ­Abstützen des Kopfes bei einem Unfall. Je älter ein Kind ist, desto kleiner wird der Kopf im Vergleich zum restlichen Körper und somit sinkt die Belastung des Kopf-Nacken-Bereiches bei einem Aufprall tendenziell mit dem Alter, denn die Nacken- und Rückenmuskulatur kann den proportional kleineren Kopf besser halten und abfangen. Je älter ein Kind wird, desto länger wird es auch. Es kommt durch die Größe des Kindes irgendwann zu Platzproblemen für die Beine und Schwierigkeiten beim selbstständigen Einsteigen. Das rückwärts gerichtete Fahren bis zu einem Alter von zwei Jahren scheint ein guter Kompromiss zu sein.

Welche Nachteile sehen Sie bei rückwärts gerichtetem Fahren?
Das Hineinsetzen und Anschnallen ist etwas aufwendiger. Häufige ­Probleme können auch sein, dass dem Kind schlecht wird, es zu wenig oder keinen Platz für die Beine hat, und/oder dass das Kind mich nicht sieht und ich das Kind nicht sehe. 

Titelfoto: Jessica Blank