30.01.2020 Jessica Blank

Die Geschichte des Notrufs seit 1969

11. 2. – europäischer Tag des Notrufs. Nicht immer war das Notrufsystem in Deutschland so gut ausgebaut wie heute. Die Björn-Steiger-Stiftung hat maßgeblich dazu beigetragen, dass es unter anderem die einheitliche Notrufnummer 112 gibt. Heutzutage machen Innovationen wie die Lazarus-App den Notruf noch einfacher – und das für jeden.


Auf dem Heimweg vom Schwimmbad wird der achtjährige Björn Steiger von einem Auto erfasst. Obwohl Passanten sofort die Rettungskräfte alarmieren, dauert es eine Stunde, bis der Krankenwagen kommt. Zu diesem Zeitpunkt lebt der Junge noch. Auf dem Weg ins Krankenhaus erliegt er nicht etwa seinen Verletzungen. Er stirbt am Schock.

Dieser Verkehrsunfall vom 3. Mai 1969 sollte das Notrufsystem und das Rettungswesen in Deutschland maßgeblich verändern. „Björn Steiger starb auch und gerade deshalb, weil es damals noch keinen funktionierenden modernen Rettungsdienst gab“, erzählt Tobias Langenbach, Pressesprecher der Björn-Steiger-Stiftung, die Ute und Siegfried Steiger nach dem Unglück gründeten. „Das Leben ihres Sohnes konnte das Ehepaar Steiger nicht retten. Daher setzten sie sich das Ziel, das Rettungswesen zu verbessern und auf diese Weise so viele andere Leben wie möglich zu retten.“

Und so begann eine Reihe von Entwicklungen, die hier aufzuzählen, den Rahmen sprengen würde. „Vieles, was für uns selbstverständlich ist, wurde von Ute und Siegfried Steiger angestoßen und durchgesetzt“, sagt Langenbach.

24-Stunden-Einsatz

Noch 1969 wurde der flächendeckende Sprechfunk im Krankentransport eingeführt – mitfinanziert durch die Björn-Steiger-Stiftung, die nun auch das markante Logo des roten Steiger-Sterns mit den sieben ungleichen Strahlen trug. 1971 baute die Stiftung die bekannten orangefarbenen Notrufsäulen entlang von 35.000 Kilometern Bundes- und Landstraßen auf, später folgten auch die Autobahnen. Im gleichen Jahr etablierte sie das 24-Stunden-Notarztsystem und schickte einen vollausgerüsteten Notarztwagen in Stuttgart auf die Straßen, der rund um die Uhr im Einsatz sein musste. Ein Rettungsdienst ging bundesweit an den Start. Denn bis dahin war lediglich ein Krankentransport ohne medizinische Ausrüstung und ohne Rettungssanitäter Standard.

1972 baute die Steiger-Stiftung die Luftrettung aus und gründete die erste zivile
Luftrettungsorganisation, die Deutsche Rettungsflugwacht (DRF). Doch einer der wichtigsten Meilensteine war wohl die bundesweite Einführung der kostenlosen Notrufnummern 112 und 110 im Jahr 1973. Zeitgleich entwickelten die Steigers das Rettungsmodell Rems-Murr, eine erstmals vollständige, eigenfinanzierte und wissenschaftliche Personal- und Materialberechnung für einen finanzierbaren Rettungsdienst. „Das Modell wurde zum Muster für die bundesweite Notfallhilfe, wie wir sie heute kennen“, erklärt Langenbach.

In den 1970er-Jahren mussten eingeklemmte Unfallopfer oft (zu) lange auf ihre Rettung warten, da die schweren Rüstwagen der Feuerwehr nicht zum Unfallort kamen. 1974 wurden mit der Stuttgarter Feuerwehr Schnellbergungswagen entwickelt. Ebenso startete der erste Baby-Notarztwagen seinen Dienst. Fünf Jahre später stellte die Stiftung das erste Notarzt-Einsatzfahrzeug (NEF) auf der IAA in Frankfurt vor. Kurz darauf schenkte sie vier Hilfsorganisationen in Bonn jeweils eines, das unabhängig von den anderen Einsatzfahrzeugen losgeschickt werden konnte.

Weiterhin Lücken

Die Liste der Meilensteine der Björn-Steiger-Stiftung in den vergangenen 50 Jahren könnte man lange so weiterführen. Seien es die Verbreitung von Laien-Defibrillatoren und Wiederbelebungs-Schulungen im Kampf gegen den Herztod, Erste-Hilfe-Kurse, der heutige Baby-Notarztwagen „Felix“, Kita- und Schulprojekte oder Notrufsäulen an Stränden und Badeseen. Und trotzdem klaffen im mittlerweile so gut ausgebauten Rettungswesen in unserem Land Lücken. „Es gibt noch viel zu verbessern. Schauen wir auf den Rettungsdienst im Allgemeinen. Immer weiter steigende Einsatzzahlen, wachsender Personalmangel, sehr gute, aber auch alarmierend schlechte Notfallversorgung in einigen Regionen und Patienten, die ohne Lotsen im Gesundheitssystem auf sich allein gestellt sind, bringen den Rettungsdienst gegenwärtig an seine Grenzen“, sagt Langenbach. Er spricht auch von mangelnden bundesweit einheitlichen Qualitätsstandards. „Aktuell ist Überleben eine Frage des Wohnorts und damit des Zufalls.“

Auch im Bereich Notruf gebe es Verbesserungsbedarf. „Wer den Notruf wählt, ist meist sehr aufgeregt“, erklärt Langenbach. Hier fehle ein einheitliches, systematisches Abfragesystem, das so aussehen könnte: „Leitstellen mit aufeinander abgestimmten Fragen und Anweisungen bieten dem Anrufer Orientierung. Sie nehmen den Anrufer gewissermaßen an die Hand und führen ihn durch die schwierige Notsituation.“ Es gibt also noch jede Menge zu tun.

Ein Punkt ist, dass jeder Mensch die gleichen Möglichkeiten haben sollte, einen Notruf abzusetzen. Das ist aber noch nicht der Fall. Eine Innovation des IT-Unternehmens Lazarus Networks könnte helfen, das zu ändern: die Lazarus-App. Damit sind selbst Menschen mit Sprach- und Hörschädigungen in der Lage, im Ernstfall die Rettungskräfte zu alarmieren. Die App verfügt nicht nur über die Möglichkeit des klassischen Sprachanrufs, sondern auch über eine textbasierte Chatfunktion sowie eine Videoübertragung.

Familiärer Hintergrund

Die Idee für das Programm hatte Geschäftsführer Roman-Bendix Lazarus aus familiären Gründen. Seine Mutter ist 80 Jahre alt, wohnt außerorts und ist auf Sauerstofftherapie angewiesen. Er fragte sich: „Was passiert, wenn sie Hilfe braucht und aufgrund des Sauerstoffmangels nicht sprechen kann?“ Die Zielgruppe sind also neben Menschen mit Behinderung auch Senioren. Bisher können diese in einer solchen Situation nur ein Notruf-Fax an die Leitstelle absetzen. „Damit sind die Betroffenen sehr eingeschränkt und können kaum das Haus verlassen, weil nur dort das Fax steht“, erklärt Lazarus. Die App erhöhe die Lebensqualität und den Bewegungsfreiraum. Dass der Bedarf nach so einer Notruf-App da ist, ist sich Lazarus sicher. „Das ist eine Gruppe, die seit Jahren nach Beachtung schreit“, sagt er. Und auch die Leitstellen würden so eine Möglichkeit befürworten. Das bestätigt Christian Bieber, technischer Leiter der Feuerwehr Münster: „Die Notwendigkeit für sprach- oder hör-geschädigte Personen, einen 112-Notruf selbstständig absetzen zu können, ist aus meiner Sicht alternativlos und klarer politischer Wille im Sinne eines barrierefreien Notrufs in Deutschland.“ Derzeit sei seine Leitstelle allerdings noch nicht in der Lage, solche Notrufe entgegenzunehmen. Erst nach der Umstellung des ISDN-Notrufs auf IP könnten moderne Chatdienste genutzt werden. „Die Umstellung soll noch in diesem Jahr erfolgen. Die bundesweite Ausschreibung einer Notruf-App ist zur Zeit in Vorbereitung“, sagt Bieber. Dann könnten genaue Ortung und persönliche Gesundheitsdaten direkt über die 112 an die Leitstelle geschickt werden.

Genau dafür ist die Lazarus-App bereits ausgelegt. In dem Programm hinterlegen Nutzer alle relevanten Daten wie Medikamente, Erkrankungen, Allergien oder Behinderungen – auf freiwilliger Basis.  „Sie müssen sich vorstellen, Sie packen ein Notfallköfferchen. Und das von Ihnen gepackte Köfferchen bleibt dort, wo sie es abgestellt haben – auf Ihrem Handy. Das geht in keine Datenbank“, verdeutlicht Lazarus. Auch die Übermittlung von Geodaten und eine Benachrichtigung der Angehörigen per SMS, sobald ein Notruf getätigt wurde, sei ein Mehrwert.

Test mit Experten

Die App befindet sich derzeit noch in der Testphase. Für diese konnte das IT-Unternehmen Menschen gewinnen, die  genau wissen, welche Anforderung so eine Notruf-App erfüllen muss. Die Mitarbeiter des sozialen Dienstleistungsunternehmens Wertkreis in Gütersloh prüfen die Lazarus-App auf Herz und Nieren. „Die Entwickler haben mit der Zielgruppe nichts zu tun. Da muss man erst einmal lernen, was es bedeutet, ein Handicap zu haben“, erklärt Steffen Gerz, Pressesprecher von Wertkreis. Er freut sich darüber, dass Menschen mit Behinderung als Experten akzeptiert werden. „Das ist sehr im Sinne von Inklusion.“

Die erste Reaktion von Gerz’ Kollegen: „Warum gab es so was früher noch nicht?“ Einer meinte sogar, es sei ein Unding, dass es bei einer so existenziellen Sache wie dem Notruf keine barrierefreie Variante gebe. Gera-de Menschen mit Behinderung, die ambulant betreut alleine zu Hause wohnen, bräuchten so eine App dringend. Bei der Testphase, die noch bis März läuft, gab es bereits viele positive Erfahrungen, aber auch Verständnisprobleme.

„Das sind Kleinigkeiten, wo man sich ohne Behinderung nicht reindenken kann“, erklärt Gerz. Zum Beispiel sei auch die Haptik wichtig, damit ein Notruf-Button mit einer Spastik zu betätigen ist. „Die App muss auch verständlich sein, ohne schreiben und lesen zu können. Die Videofunktion ist sehr wichtig“, sagt Gerz. Diese ist allerdings erst nach Einwilligung der Leitstelle möglich. „Seelsorger raten von einer direkten Videoübertragung ab“, sagt Lazarus. Man kann die Anfrage zur Videokommunikation stellen, doch der Disponent entscheidet. So ist er darauf vorbereitet, eventuell traumatisierende Unfallbilder zu sehen.

Letztlich muss die App die Bedürfnisse verschiedener Menschen erfüllen. „Etwas barrierefrei zu machen heißt nicht, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, sondern eine Vielzahl an Features zu bieten“, meint Gerz. Und diese werden seine Kollegen weiter testen. „Je mehr Lücken wir finden, desto besser wird diese App für Menschen mit Behinderung sein.“

Segen für den Notruf

Roman-Bendix Lazarus hat seine App bereits patentieren lassen und hofft, dass sie im Sommer bundesweit an den Start gehen kann. „Wir hätten unheimlich viele technische Möglichkeiten, Menschenleben zu retten, wenn man uns lassen würde“, sagt er. Und damit lebt er den gleichen Gedanken wie schon das Ehepaar Steiger vor über 50 Jahren. „Innovationen wie die Lazarus-App stellen sicher, dass keine Gruppe benachteiligt oder ausgeschlossen wird. In einem Bereich, in dem es um Menschenleben und um jede Sekunde geht, kann Benachteiligung den sicheren Tod bedeuten“, erklärt der Pressesprecher der Björn-Steiger-Stiftung Tobias Langenbach. Lazarus und die Stiftung arbeiten bereits Hand in Hand. Auch wenn die technischen Standards heutzutage andere sind, die Idee bleibt gleich. „Man redet beim Smartphone oft von Fluch oder Segen”, sagt Lazarus. „Ich finde, es ist ein Segen, der uns da ins Haus steht, wenn es darum geht, Leben zu retten.“

Titelfoto: bilderstoeckchen/stock.adobe.com


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